Alte Storys, neu erzählt: Auch Romeo Castelluccis "Salome" (2018) kommt wieder.

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Spielzeitmottos, die Theater und Festivals ihren jährlichen Neuausgaben gerne voranstellen, behaupten eine Kontinuität der künstlerischen Intentionen im Programm, gegen die sich nicht selten das einzelne Werk, das einzelne Aufführungsprojekt mit der List der Form erfolgreich zur Wehr setzt. Sie dienen dazu, Intendanten und Intendantinnen samt ihren Planungsteams als gesellschaftspolitisch Handelnde zu legitimieren. Mangels kunstimmanenter Bedeutung sind sie nach kurzer Zeit zumeist und auch zu Recht vergessen.

Eine Ausnahme bilden die diesjährigen Salzburger Festspiele. Ein Programm voll der Mythen, insbesondere das Musiktheater führt aus der Sicht unterschiedlicher Epochen jene Erzählstränge zusammen, die die Künste von der Antike bis zur Gegenwart nicht loslassen: Médée von Beethovens Zeitgenossen Cherubini in der Inszenierung von Simon Stone, der seine Schauspielmeriten nun auch auf die Oper ausweitet; mit George Enescus Oedipe eine Position des 20. Jahrhunderts; Mozarts Idomeneo und Romeo Castellucis epochale Salome-Inszenierung aus dem vergangenen Jahr. Auch Orphée aux enfers, Jacques Offenbachs Entmythologisierung unter schallendem Gelächter, gehört nicht nur aufgrund des Sujets in diesen Kontext. Die Operette siedelt an der Schwelle, an der Mythos nicht mehr Wirkkräfte in Natur und Geschichte bearbeitet, sondern gesellschaftliche Verhältnisse mühsam verschleiert und zur Ideologie wird.

Großmacht des Geistes

Vielleicht ist gerade Salzburg der richtige Ort für diese dem Gegenwartsbewusstsein schwer verdauliche Kost. Ist das Festival doch selbst Resultat einer mythischen Grundlegung. Nach dem Ersten Weltkrieg militärisch geschlagen, politisch widerlegt und wirtschaftlich devastiert, sollte die einstige Großmacht Österreich im Reich des Geistes wiedererstehen. Die Festspiele rezipierten die Moderne janusköpfig, in der Rückschau voranschreitend, ihre Verluste immer im Blick – ein Verfahren, das erlaubt, die Widersprüche der Moderne zu entfalten.

Für die Mythenforschung in der Oper spricht auch, dass es dem komplexen Wahrnehmungsvorgang im Theater mit der Musik eine weitere begriffslose Ebene hinzufügt. Was es noch schwerer macht, das Gehörte und Gesehene im Begriff zu fassen, abzulegen und es so wieder vom eigenen Erleben zu abstrahieren.

Neomythen heutiger Populisten

Was aber sagt es über eine Gesellschaft und ihre Zukunft aus, wenn sich die Theater bevorzugt im zyklischen Denken des Mythos aufhalten? Das motiviert im ersten Anschein eine Krisendiagnose. Mit dem Unwort des "Postfaktischen" adelt der Zeitgeist die Lust an der infantilen Weigerung, schlichte Tatsachen anzuerkennen. Die politische Sphäre scheint sich zunehmend vom Ort des Ausgleichs von Interessen und der Lösung von Problemen in eine Simulationsmaschine zu verwandeln, die vor allem sich selbst begründende kollektive Identitäten reproduziert.

Was aber unterscheidet die mit dem Wissen von Jahrtausenden angereicherten Erzählungen von Neomythen der heutigen Populisten, Nationalisten und Rassisten? Stellen sie vielleicht sogar ein ästhetisches und begriffliches Instrumentarium bereit, am Falschen das Falsche zu erkennen? Die antiken Mythen handeln von Niederlagen, schmerzlichen Verlusten und Untaten auf dem Wege der Subjektwerdung. Der geblendete Ödipus ist ihr mächtigster Zeuge. Mythos bietet keine Heimat. Odysseus flieht vor seinen Verlockungen nach Ithaka. Goethes Wahlverwandtschaften wissen, dass es kein gutes Schicksal gibt. Gut ist vielmehr, kein Schicksal zu haben. Der Mythos handelt am Ende nicht vom Kollektiv, sondern von denen, die aus ihm herausfallen. Selbst in den späteren Versionen des Medea-Stoffes, die alles Finstere in die Fremde aus Kolchis hineinpro jizieren, bleibt noch die Sympathie für die Leidende. Mit der Flatulenzwärme nationaler oder ethnischer Gemeinschaften hat der Mythos gerade nichts zu tun.

Bewohner des Wohlstandsgürtels

Hier wäre anzusetzen. Das erfordert allerdings die Einsicht, dass Mythos und Aufklärung, die ihn doch ablösen sollte, eng miteinander verwoben sind. Mythos ist Logos und diente von jeher der Naturbeherrschung. So ist auch die Vernunft von diesem Herrschaftsaspekt durchdrungen und trägt den möglichen Umschlag ins Irrationale in sich. Diese pessimistische Diagnose haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im amerikanischen Exil während des Zweiten Weltkriegs gestellt, den Tiefpunkt der menschlichen Zivilisation vor Augen. Die Dialektik der Aufklärung ist wahrscheinlich eines der einflussreichsten unter den Büchern im deutschsprachigen Kulturleben der Nachkriegszeit. Der Pessimismus der Geflüchteten wirkt heute aus den Mündern von Bewohnern und Bewohnerinnen des europäischen Wohlstandsgürtels zwar ein wenig kokett, aber er hilft gegen ein naives Vertrauen in die Vernunft, die über alles Überkommene nonchalant hinweggeht.

Man wird den Mythos nicht los, seine Erzählung widersetzt sich dem Begriff, der das, was er beschreibt, zwangsläufig umformt, vereinfacht und Elemente dar aus ausspart. Mythos lässt sich auch nicht "entmythologisieren". Der Theologe Rudolf Bultmann etwa hat mit einer entmythologisierenden Lesart biblischer Texte den Glaubenden eine Vielzahl vernunftwidriger Verrenkungen erspart, allerdings um den Preis, dass Theologie zur Existenzphilosophie schrumpft.

Ketten von Erzählungen

Mythen sind nicht der Vorrat eines unveränderlichen Menschheitswissens. Sie wandeln sich und sind keineswegs allgemeingültig. Sie liegen weder in der Menschheitsentwicklung vor der Heil verheißenden Vernunft, noch in der Wahrnehmung vor der Erfahrung. Sie sind Ketten von Erzählungen, die Erfahrung verdichten, verwandeln und mit bereits Erzähltem zu etwas Neuem mischen. Was so zur Form gerinnt, wird auch ohne den ursprünglichen Kontext als ästhetisch bestimmtes Gebilde lesbar. Wir wissen nicht, wie die einstigen Erzähler von Ödipus oder Medea empfunden haben. Aber was sie zu sagen haben, lässt uns nicht kalt. Es formt die Sicht auf unsere heutige Erfahrung. Mythen sind Flaschenpost aus der Menschheitsgeschichte. Theater gehören zu den bevorzugten Orten, sie zu finden, zu entziffern, zu befüllen und neu etikettiert weiterzugeben. (Uwe Mattheiß, 20.7.2019)


Höhepunkte der diesjährigen Salzburger Festspiele

  • Bei Aribert Reimanns "Lear" hat Regisseur Simon Stone in Salzburg 2017 emotionale Grenzbereiche ausgeleuchtet. Nun vertieft er sich in Luigi Cherubinis "Médée"
    (ab 30. 7.) und wird wohl existenzielle Katastrophen in eindringliche Bilder fassen. (tos)
  • Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt" ist bei Barrie Kosky in virtuosen Händen. Seine Regiearbeiten verbinden Tempo und grellen Humor. Der Stil wird sich bei der Persiflage auf die Verhältnisse zur Zeit Napoléons III. wohl voll entfalten (14. 8.). (tos)
  • Die gefeierte deutsche Schauspielerin Valery Tscheplanowa gibt ab Samstag an der Seite von Jedermann Tobias Moretti ihr Debüt als Buhlschaft (Regie: Michael Sturminger). "Der Text ist alt, und ich lasse ihn dort, wo er ist", sagte sie im Vorfeld. (afze)