Agnes Heller war eine wichtige und streitbare Stimme eines modernen Liberalismus.

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Es ist noch nicht lange her, dass die ungarische Philosophin Ágnes Heller in einem Interview schilderte, wie ihr der Großvater vor dem Einschlafen Goethe-Gedichte vorgelesen hatte. Später dann, so Heller, habe sie Thomas Mann entdeckt, von dessen Zauberberg sie nie mehr weggekommen sei. Auch im Budapester Ghetto nicht, wo die 15-Jährige, verfolgt von den Nazis, Thomas Manns Novellen las.

1929 in bürgerlich-weltoffene jüdische Familienverhältnisse hineingeboren, dauerte es nicht lange, bis Ágnes Heller zwei große Totalitarismen des vergangenen Jahrhunderts – Faschismus und Stalinismus – am eigenen Leib erfahren musste. Sie selbst und ihre Mutter konnten der Deportation durch die Nazis zufällig entgehen, der Vater, ein Rechtsanwalt, und ein großer Teil der Verwandtschaft wurden in Konzentrationslagern ermordet.

Hannah-Arendt-Lehrstuhl in New York

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 verlor Ágnes Heller ihre Stelle an der Uni Budapest und wurde aus der Partei ausgeschlossen. Nach jahrelangen Repressionen emigrierte sie schließlich nach Australien, wo sie in Melbourne eine Soziologieprofessur innehatte.

1986 berief man sie auf den Hannah-Arendt-Lehrstuhl der New School for Social Research in New York. Nicht nur als Professorin, auch als Autorin von Büchern wie Der Mensch der Renaissance (1967), Theorie der Bedürfnisse bei Marx (1976) oder Paradox Europa (2019) setzte Heller dem verbreiteten Zwang zum Konsens den Pluralismus entgegen – und der Ideologie die gedankliche Freiheit. Ethik, Geschichts- und Moralphilosophie ziehen sich daher wie rote Fäden durch ihr Werk.

Stark beeinflusst wurde die überzeugte Marxistin, die sich im Laufe der Jahre zur liberalen Sozialdemokratin wandelte, zunächst vom Philosophen Georg Lukács, bei dem sie in den 1950-ern Philosophie und Literatur studiert hatte.

Abrechnung mit Orbán

Die von ihrem Mentor postulierte "transzendentale Obdachlosigkeit" spielt in Hellers Werk aber nur bedingt eine Rolle. Vielmehr ging es ihr, wie die Philosophin bemerkte, darum, ihre "Schuld als Überlebende" abzutragen und Auschwitz und den Stalinismus zu verstehen. Das Ziel: "eine neue Welt" errichten. Die auch in Frauenthemen stark engagierte Philosophin jagte dieser Vorgabe selbstkritisch und uneitel nach.

Stets beharrte sie dabei auf einer offenen, auf Menschenrechten aufbauenden Gesellschaft sowie einer politischen Ethik. Das brachte Heller, die seit ihrer Emeritierung zwischen New York und Budapest pendelte, in Opposition zu Viktor Orbán, den sie als "rechtsorientierten, nationalistischen Demagogen" bezeichnete. Der Staat und die rechte Presse revanchierten sich mit einer Kampagne, die ihr unterstellte, EU-Gelder veruntreut zu haben.

Abrechnung mit Orbán

Gerade in der Auseinandersetzung mit Orbán etablierte sich Heller als wichtige Stimme eines modernen Liberalismus. Dieses Frühjahr rechnete sie im Buch Paradox Europa noch einmal mit Orbán ab. Auch im Populismusdialog auf der Homepage des Goethe-Instituts meldete sie sich im Juni zu Wort und sagte: "Es gibt keine Demokratie ohne eine kulturelle Elite, die sich essenziell von der politischen und ökonomischen Elite unterscheidet. Damit meine ich Menschen, die respektiert werden und als Vorbild dienen, sowohl aufgrund ihrer geistigen Leistungen als auch ihres sozialen Verantwortungsbewusstseins. Eine Gesellschaft, in der die angesehensten Mitglieder die Erfolgreichen und Wohlhabenden sind, (...), verkommt zu einer reinen Massengesellschaft ohne Substanz."

Ágnes Heller verstarb am 19. Juli im Badeort Balatonalmadi am Plattensee. Sie wurde 90 Jahre alt. Laut Augenzeugen schwamm sie auf den See hinaus und kehrte nicht zurück.

(Stefan Gmünder, 21.7.2019)