In Peking liegen die Nerven blank nach der überraschenden Belagerung und den Übergriffen auf seine Ständige Vertretung in Hongkong durch tausende Demonstranten. Am Sonntag waren die erneuten Massenproteste für mehr politische Freiheit zuerst friedlich verlaufen – Veranstalter zählten dabei 430.000 Teilnehmer, die Polizei sprach von 138.000. Dann aber zog ein Teil der Marschierenden am späten Nachmittag zu Chinas Verbindungsbüro weiter.

Es ist die offizielle Vertretung der Pekinger Zentralregierung in dem seit 1997 zur Volksrepublik gehörenden Hongkong, das sich nach dem Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" für 50 Jahre selbstständig regieren darf. Die Menge umzingelte die Repräsentanz Chinas, bewarf das Amtsgebäude mit Eiern, besprühte Überwachungskameras und seine Mauern mit Graffiti und das Staatswappen der Volksrepublik mit schwarzer Farbe.

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Die Polizei setzte Tränengas gegen die Demonstranten ein.
Foto: REUTERS/Tyrone Siu

Peking verlor die Geduld. Das war kein Happening mehr, sondern nach seiner Lesart eine ungeheuerliche antichinesische Straftat. Die zentralen Mittagsnachrichten des Staatsfernsehsenders CCTV, eine der Hauptnachrichten-Sendungen des Landes, schossen am Montag eine propagandistische Breitseite ab. Die für Hongkong zuständigen Behörden und die Parteizeitung sendeten hintereinander fünf Kommentare. Einheitlicher Tenor: Die "verbrecherische Aktion" von "radikalen Elementen" sei eine "offene Herausforderung der Autorität der Zentralregierung". Das Verbindungsbüro, in das die Demonstranten einzudringen versuchten, sei Chinas Vertretung; das besudelte Emblem das verfassungsgeschützte Staatswappen des Landes. Die Übergriffe verletzen die "unterste Grenze des Prinzips 'Ein Land, zwei Systeme'."

Ordnung gefordert

Chinas Führung, die in Hongkong eine Armeegarnison unterhält, vermied es am Montag allerdings, direkte Eingriffe anzudrohen. Noch soll das die von ihr bestellte Hongkonger Regierung besorgen. Das Parteiorgan "Volkszeitung", das erst am Nachmittag an die Zeitungskioske ausgeliefert wurde, um auf ihrer Titelseite noch einen Kommentar zu drucken, forderte die Hongkonger Verwaltung auf, schnellstens für Ordnung zu sorgen. "Wir unterstützen die Regierung der Sonderverwaltungszone entschieden dabei, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um die Sicherheit der Einrichtungen der Zentralregierung zu garantieren, Hongkongs Recht und Gesetz zu gewährleisten und die kriminellen Elementen zu bestrafen."

China fordert von Regierungschefin Lam mehr Ordnung.
Foto: APA/AFP/ANTHONY WALLACE

Zugleich warnte Pekings Führung Hongkongs Regierung unter Verwaltungschefin Carrie Lam, sie müsse endlich durchgreifen: "Wir glauben fest daran, dass Hongkongs Regierung unter der Unterstützung der Zentralregierung und der breiten Masse der Hongkonger Bürger ganz bestimmt die normale soziale Ordnung wiederherstellen kann." Chinas patriotische Parteiblätter wie die "Global Times" setzen auf Hongkongs patriotische Bürger als angebliche schweigende Mehrheit. Sie stünden aufseiten der Volksrepublik.

Nachrichtensperre

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Auch Gummigeschoße kamen zum Einsatz.
Foto: REUTERS/Tyrone Siu

Zu den seit sechs Wochen anhaltenden, zumeist friedlich verlaufenden Protesten, an denen bei zwei Anlässen jeweils mehr als eine Millionen Hongkonger teilnahmen, hatten Chinas Behörden geschwiegen. Die Bevölkerung erfuhr in den ersten Wochen fast nichts darüber. Peking verhängte strikte Nachrichtensperren, blendete Fernsehsendungen von BBC oder CNN aus, sobald nur das Wort Hongkong fiel.

Auch am Montag berichteten seine Medien nicht über die großen Demonstrationen vom vergangenen Wochenende. Diese verliefen friedlich, doch in der Nacht auf Montag kam es dann zu gewalttätigen Ausschreitungen auf der MTR-Bahnstation Yuen Long. Dort wurden 36 Personen verletzt. Hinter den Übergriffen sollen Provokateure stecken.

Der mutmaßliche Angriff in der Bahnstation. Zahlreiche Augenzeugen werfen der Polizei vor, bewusst weggesehen zu haben.

Demontage der Selbstverwaltung

Pekings Berichterstattung beschränkte sich am Montag darauf, die Belagerung des chinesischen Verbindungsbüros anzuprangern – und nun ist es das erste Mal, dass sich China offen herausgefordert fühlt und reagiert. Bisher war es nur indirekt betroffen. Hongkongs Proteste hatten sich an einem geplanten Auslieferungsgesetz entzündet und sich nicht gegen Peking, sondern gegen Hongkongs Regierung gerichtet, die ihre weitgehend noch unabhängige Justiz zwingen wollte, von Peking gesuchte Kriminelle künftig nach China zu überstellen.

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Maskierte Schlägertrupps.
Foto: REUTERS/Tyrone Siu

Aufgrund des Drucks der Straße musste Verwaltungschefin Lam ihre unpopuläre Gesetzesinitiative suspendieren. Dennoch gingen die Proteste weiter. Sie richteten sich immer mehr gegen die zunehmende Demontage der Selbstverwaltung und Freiheiten Hongkongs durch Pekings Einfluss.

Die Massenproteste halten seit Wochen an.
Foto: APA/AFP/ANTHONY WALLACE

Für Chinas Führung sind die Dauerdemonstrationen in Hongkong, die sie nicht in den Griff bekommt, eines der neuen Probleme, die ihre Hände binden und von denen sie überrascht wurde. Sie steht wegen ihrer repressiven Minderheitenpolitik mit Umerziehungslagern für hunderttausende Muslime in Xinjiang inzwischen weltweit in der Kritik. Zudem führt sie einen sich hinziehenden, immer schmerzhafteren Handelskrieg mit US-Präsident Donald Trump, der strukturelle Wirtschaftsreformen erzwingen will.

Hongkong: 45 Demonstranten verletzt.
ORF

Das alles spielt sich vor dem Hintergrund geplanter gigantischer Feiern zum 70. Jahrestag der Staatsgründung der Volksrepublik am 1. Oktober ab. China wollte sich dabei mit einer riesigen Militärparade als unaufhaltsame, wirtschaftliche und politische Globalmacht präsentieren. Nun macht ausgerechnet Hongkong Peking einen Strich durch die Rechnung. (Johnny Erling aus Peking, 22.7.2019)