Ein 23-jähriger Mann musste sich am Dienstag als angeblicher Vierfachmörder vor einem Schwurgericht verantworten.

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Wien – Ein außergewöhnlicher Mordprozess hat am Dienstag am Wiener Landesgericht stattgefunden. Ein 23-jähriger Mann musste sich als angeblicher Vierfachmörder vor einem Schwurgericht verantworten. Dem aus dem Irak stammenden Angeklagten wurde vorgeworfen, mit 17 in seiner Heimat seine Großmutter, die Frau seines Onkels und zwei Cousinen erstochen haben.

Er wurde vom Schwurgericht freigesprochen. Die Geschworenen glaubten dem mittlerweile 23-Jährigen mehrheitlich, dass ihm von der irakischen Polizei unter Folter ein falsches Geständnis abgepresst wurde. Der Freispruch ist nicht rechtskräftig. Der Staatsanwalt erbat Bedenkzeit.

Der 23-Jährige bestritt, die Bluttat begangen zu haben. Er sei seinerzeit als Mörder in seiner Heimat festgenommen worden. Die irakische Polizei habe ihn aber schwer gefoltert und ihn zu einem Geständnis vor einem Richter gezwungen, das sogar im irakischen Fernsehen übertragen wurde.

Angeklagter schilderte Folterungen

Fest steht, dass die vier weiblichen Familienmitglieder des Mannes – die Cousinen waren fünf und zwölf Jahre alt – im April 2013 in ihrem Haus in der Nähe von Mossul getötet wurden und dass sich der damals 17-Jährige zum Tatzeitpunkt im Haus befand. Er hatte die Großmutter besucht. Er behauptet, er könne sich nur mehr erinnern, wie er am Küchentisch saß und seine Großmutter in den Nebenraum zum Beten ging. Dann setze seine Erinnerung aus – möglicherweise, weil er einen Schlag auf den Kopf bekommen habe. Seine Erinnerung setze wieder in einem Spital in Mossul ein, wo er mit Verletzungen und Schmerzen am ganzen Körper zu sich gekommen sei.

Wenig später sei er von der Polizei im Krankenhaus festgenommen worden, setzte der Angeklagte fort. Bereits auf der Fahrt zur Polizeistation habe man ihn geschlagen, danach schwerer Folter unterzogen. "Sie haben das alles gesehen, in Hollywood-Filmen. Es ist anders, wenn man das erlebt", sprach der 23-Jährige die Geschworenen direkt an. Im Anschluss schilderte er detailliert, wenn auch stockend die Folter-Methoden, denen er ausgesetzt war. Unter anderem erzählte er, wie Zigaretten an ihm ausgedämpft wurden. Nachher habe sich der betreffende Polizist die Zigarette immer wieder angezündet und "Deine Haut schmeckt gut" gesagt.

Um weiteren Misshandlungen zu entgehen, habe er schließlich das ihm vorgegebene Geständnis auswendig gelernt und später vor dem Richter wiederholt. Diesem Geständnis zufolge soll der damals 17-Jährige den Vierfachmord begangen haben, weil er auf den Familienschmuck aus war und unter Lernstress stand – der Bursch stand kurz vor der Matura.

Gefängnis in Mossul

Der Angeklagte stammt allerdings aus besten Verhältnissen – sein Vater arbeitete als leitender Ingenieur in einer Zementfabrik, seine Mutter als Englischlehrerin. Der Vater hatte ihm kurz zuvor ein Grundstück geschenkt. "Ich habe alles bekommen, was ich mir gewünscht habe", versicherte der 23-Jährige dem Gericht. Und mit dem Lernen habe er sich nie schwergetan – eine Behauptung, die sein Werdegang in Österreich zu bestätigen scheint. Nach drei Jahren in Wien spricht der Mann perfekt Deutsch, hat eine Lehre zum Bürokaufmann absolviert und einen Job gefunden. Bei seinem Freundeskreis, der ihn zum Prozess begleitete, handelt es sich zum größten Teil um gebürtige Österreicher.

Nachdem auf Video festgehaltenen Geständnis war der 17-Jährige von der Polizei in ein Gefängnis in Mossul gebracht worden, wo er über 14 Monate in einer eineinhalb Meter großen Zelle einsaß, ohne dass gegen ihn Anklage erhoben worden wäre. Dann nahm die Terror-Miliz "Islamischer Staat" (IS) die Stadt ein. Der IS hätte "alle Gefangenen befreit", schilderte der 23-Jährige: "Sie haben einfach die Tür aufgemacht und wir sind rausgegangen." Er sei mit einem Taxi zu seinen Eltern gefahren. Gemeinsam mit diesen sei er dann in die Türkei geflüchtet. Während diese dort blieben, setzte er allein seine Flucht nach Österreich fort – er hätte sich in der Türkei nicht sicher gefühlt, erläuterte der junge Mann.

Keine Auslieferung

Auf die Frage, weshalb er in seinem Asylverfahren den ihm unterschobenen Mord nicht erwähnte, meint der 23-Jährige, er habe befürchtet, dann in den Irak abgeschoben zu werden. Tatsächlich trat der Irak dann an die österreichischen Behörden heran und verlangte die Auslieferung des vermeintlichen Vierfachmörders. Diesem wurde nicht Folge geleistet, da dem 23-Jährigen im Fall einer Verurteilung in seiner Heimat die Todesstrafe drohen würde. Daher leitete die Staatsanwaltschaft Wien ein Inlandsverfahren ein, der Iraker wurde in Wien in U-Haft genommen.

Nach neunmonatiger U-Haft wurde er dank seines Verteidigers Andreas Strobl auf freien Fuß gesetzt. Die irakischen Behörden hatten ein Rechtshilfeersuchen der Wiener Justiz, die um die Übermittlung der Unterlagen der irakischen Strafverfolgungsbehörden gebeten hatte, weitgehend unbeantwortet gelassen. Teile des Akts landeten schließlich über einen Verbindungsbeamten der österreichischen Botschaft in Jordanien in Wien – das Konvolut enthielt aber kein einziges Originaldokument und war offensichtlich unvollständig.

Andere Blutgruppe

So lieferte Verteidiger Strobl in der heutigen Verhandlung Protokolle mit den Angeklagten entlastenden Aussagen dessen nach, die seinerzeit im Irak von der Polizei vernommen worden waren. Strobl legte auch Dokumente vor, die die Grundstücksübertragung an den Sohn und die beruhigenden Vermögensverhältnisse der Familie belegten. "Für irakische Verhältnisse waren sie reich. Warum hätte er seine Großmutter umbringen sollen, die er geliebt hat?", gab der Anwalt zu bedenken.

Zuguter letzt machte Strobel noch auf einen wesentlichen Umstand aufmerksam. Laut irakischer Polizei hatte der Täter am Tatort Blutspuren hinterlassen, wobei dieser die Blutgruppe null aufgewiesen habe. Einem Befund eines Wiener Blutlabors vom 19. Juli 2019 zufolge hat der Angeklagte die Blutgruppe AB negativ. (APA, 23.7.2019)