Endlich unterwegs, sogar das gute Gewissen fährt mit. An Letzteres haben die Fridays-for-Future-Aktivistinnen in der Familie bei der Reiseplanung appelliert. Beim Bahnfahren werde fünfmal weniger klimaschädliches CO2 als beim Fliegen freigesetzt, lautete der Hinweis der beiden Töchter, zwölf und 16 Jahre alt.

Dann also Familienurlaub mit dem Zug. Interrail-Tickets gibt es immer noch, wenngleich sich seit der eigenen Studentenzeit einiges verändert hat. Die Spontanität, das Sich-treiben-Lassen ist etwas verlorengegangen, weil Plätze in Schnellzügen wie dem TGV oder der italienischen Frecciarossa kostenpflichtig reserviert werden müssen.

Den Glenfinnan-Viadukt kennen junge Bahnfahrer aus den "Harry Potter"-Bänden als Hogwarts-Express-Strecke.
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Ein Grund, warum die Vorbereitung des Familien-Interrail-Trips viel Zeit und Nerven gekostet hat. Dazu die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten eines Interrail-Global-Passes, der in 31 Ländern gilt. Entscheidungsneurosen sind vorprogrammiert. Was wurden im Familienrat nicht alles für Routen quer durch den Kontinent diskutiert, beschlossen und dann doch wieder verworfen – auch eine Möglichkeit, um Europa besser kennenzulernen. Jetzt sind die Schnellzüge, Fähren und Unterkünfte für die nächsten vier Wochen gebucht – in Amsterdam, Edinburgh, Mallaig an der schottischen Westküste, in London und in Lyon, auf Korfu und in Ancona. Ein ambitioniertes Vorhaben, finden die Skeptiker im Freundeskreis.

Buchung storniert

Noch fünf Stunden bis Amsterdam. Während Dörfer, Äcker und Wälder an den ICE-Scheiben vorbeirauschen, haben sich die Töchter dank Smartphone und Kopfhörer in die digitale Welt verabschiedet. Die Mutter schmökert in ihrem Krimi. Zeit für den Vater, mal kurz die E-Mails zu checken. Fünf neue Nachrichten – eine von Airbnb. Und die lässt den Puls nach oben schießen. "Bernard hat deine Buchung für heute storniert."

Bernard, das ist der Besitzer des hübschen Hausboots, auf dem wir in Amsterdam stilecht zwei Nächte verbringen wollten. Krisensitzung im ICE-Wagon. Im Sommer in Amsterdam eine bezahlbare und zentrumsnahe Unterkunft zu finden ist eine echte Herausforderung – selbst mit viel Vorlauf. Ein reger E-Mail-Verkehr mit Mary von Airbnb beginnt – und endet mit der Buchung eines Alternativvorschlags am schmucklosen Stadtrand, weit weg von malerischen Wasserstraßen, immerhin aber mit einer Straßenbahnhaltestelle vor der Tür.

Keine Wahl

Zwei Tage Amsterdam mit Stadtführung, Van-Gogh-Museum und Bummeln, dann bringt uns der Bus zum Hafen. Draußen lassen heftig geschüttelte Bäume Böses ahnen. Ein Sturm zieht auf – ausgerechnet vor der großen Schiffspassage in den Norden Großbritanniens. Vielleicht wäre die Zugfahrt unterm Ärmelkanal doch die bessere Variante gewesen. Zu spät, der Reiseplan steht.

Wer mit dem Zug nach Amsterdam kommt, ist mitten im Zentrum – und per Fähre rasch im Norden Englands.
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Als die King Seaways den Hafen verlässt, beziehen wir unsere Kabine und wanken gleich darauf zum Beobachtungsdeck. Dort erklären Mitarbeiter von Orca Wildlife die Tierwelt der Nordsee. Die Naturschützer haben auf der Fahrt über die Nordsee schon mehrere Tausend Finn- und Buckelwale sowie Delfine gezählt. Heute ist kein Meeressäuger zu sehen, dafür aber jede Menge blasse Passagiere. Die King Seeways schaukelt immer heftiger. Dank bestens ausgestatteter Reiseapotheke überstehen die Landratten aus den Alpen den Abend und die Nacht gut. Am nächsten Morgen zeigt sich die Nordsee von ihrer sanften Seite.

Harry Potter allerorten

Knapp eineinhalb Stunden sind es mit dem Schnellzug von Newcastle nach Edinburgh. Anders als in Italien und Frankreich müssen die Plätze in den Schnellzügen nicht reserviert werden. Edinburgh stand beim jüngsten Familienmitglied weit oben auf der Wunschliste. Hier hat sich J. K. Rowling inspirieren lassen, unter anderem auf dem Greyfriars Kirkyard. Der Friedhof ist ein Muss für jeden Harry Potter-Fan. Wir stehen vor den verwitterten Grabsteinen von Thomas Riddle und William McGonagall – wenn die Herren wüssten, welche Berühmtheiten sie dank Rowlings Namensklau heute sind.

Im Hintergrund ragen die Türme der George Heriot's School in den wolkenverhangenen Himmel – als stünde man vor Hogwarts, der Hexen- und Zaubererschule aus der Potter-Welt. Später sitzen wir im Elephant House, einem gemütlichen Café, und trinken an jenem Tisch Tee, an dem Rowling oft geschrieben hat.

Ein Fest für die Augen

An Tag vier des Schottland-Aufenthalts folgt das Interrail-Highlight des Vaters: Knapp sechs Stunden braucht der Super Sprinter für die 264 Kilometer von Glasgow bis Mallaig an der Westküste – ein Fest für die Augen. Die West Highland Line gilt als eine der schönsten Zugstrecken der Welt: Hochmoore mit Moosen in spektakulärem Farbspiel, raue, kahle Berge und tiefblaue Seen – es könnte ewig so weitergehen. Auch die Kinder sind begeistert, erst recht, als der Glenfinnan-Viadukt auftaucht, über den der Hogwarts-Express in den Potter-Filmen rollt.

Metrofahren hat seine Tücken. Ein Geflüchteter lotst die Allgäuer Familie in Paris durch das Labyrinth.
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Mallaig – welch Kontrast zum Overtourism in Amsterdam oder Edinburgh. Es ist ein bescheidener Ferienort mit einer Werft an der Uferpromenade, rostigen Fischkuttern im Hafen und einer Handvoll Pubs. Untergebracht sind wir im Mobile Home von Esthers Garten. Schlafen, kochen, spielen auf engem Raum – dafür der weite Blick auf die Hebriden-Inseln. Esther ist eine echte Europäerin. Sie stammt aus Holland, lebt aber schon seit vielen Jahren in Mallaig, weil sie hier ein Haus geerbt und sich in die archaische Landschaft verliebt hat.

Als wir zu einer kleinen Wanderung aufbrechen, gibt sie uns sogar Gelsenspray mit. Nur Wanderschuhe haben wir keine. Sie hatten in den Rucksäcken keinen Platz – genauso wenig wie große Badetücher für die Strandtage in Griechenland. Unsere Reiseziele liegen in den unterschiedlichsten Klimazonen. Das erfordert Opfer.

Quer durch Großbritannien

Es fällt schwer, nach dreieinhalb Tagen die schöne kleine Welt von Mallaig zu verlassen. Knapp zwölf Stunden Zugfahrt durchs Vereinigte Königreich liegen vor uns. Geplante Ankunft in London King's Cross: 21.38 Uhr, mit Umsteigen in Glasgow und Edinburgh – Verspätungen darf es keine geben. Reicht schon, dass erneut eine Unterkunft am Anreisetag storniert wird. Wieder erhöhter Adrenalinspiegel, den diesmal Nico von Airbnb mit einer Umbuchung senken kann. Immerhin ist die britische Bahn pünktlich.

Übrigens werden wir auch in Frankreich und Italien alle Züge erreichen. Insgesamt kommen in vier Wochen nur zehn Minuten Verspätung zusammen. Damit haben wir als Dauerbahnfahrer nicht gerechnet.

Auf Korfu erholt sich die "Interrail-Familie" ein paar Tage von den Strapazen der sehr langen Anreise.
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London ist nur ein kurzer Zwischenstopp mit einer Übernachtung. Schwer beeindruckt stehen wir am folgenden Morgen vor dem St-Pancras-Bahnhof – ein Prachtbau, dessen viktorianische Architektur an eine Kathedrale erinnert. In der 70 Meter breiten, lichtdurchfluteten Halle startet der Eurostar nach Paris. Gerade mal zwei Stunden und fünfzehn Minuten dauert die Fahrt. Als wir nach 20 Minuten wieder aus dem Eurotunnel auftauchen, will unsere jüngste Tochter gar nicht glauben, dass wir gerade den Ärmelkanal "unterquert" haben. Sie findet, Tunnelwände aus Glas statt aus Beton mit Blick in die Unterwasserwelt würden den Erlebnisfaktor der Fahrt deutlich erhöhen.

Habib, der Hilfsbereite

Am Pariser Gare du Nord wartet eine knifflige Aufgabe: der Transfer zum Gare de Lyon, und zwar möglichst schnell, um den gebuchten TGV nach Lyon zu erreichen. Regionalzug oder Metro, welches Gleis, welche Linie? Die Landeier aus Bayern sind überfordert. Das bemerkt Habib, ein junger Afghane, der sich spontan als Guide durch den Pariser Metro-Dschungel anbietet. Wir rennen hinter ihm her, kriechen unter Drehkreuzen durch, vertrauen ihm blind bei der Wahl der Metrolinien – und kommen rechtzeitig am Gare de Lyon an. Es sei ihm eine Ehre gewesen, meint Habib, der als Geflüchteter in Paris gestrandet ist und sich schnell wieder verabschiedet.

Bis wir Korfu erreichen, werden noch einige Stationen folgen. Aber um es kurz zu machen: Zu einer Interrail-Reise gehört auch eine Fahrt mit dem Nachtzug. Die treten wir in Dijon an. Es gibt Familienmitglieder, die auf den schmalen Pritschen kaum ein Auge zumachen – wegen des ständigen Quietschens auf der kurvenreichen Strecke durch die Alpen und der nächtlichen Grenzkontrollen. Andere behaupten, sie hätten selten so gut geschlafen. Entsprechend unterschiedlich ist die Stimmung bei der Ankunft in Ancona. Sie reicht von physischer und psychischer Müdigkeit bis zu großer Vorfreude aufs nächste Abenteuer, die Fährfahrt, mit anschließenden Tagen der Entspannung auf Korfu.

Mallaig in Schottland bildet den nördlichsten Punkt der Reise, Korfu den südlichsten. Die Anreise auf die griechische Insel zählt zu den anstrengendsten Erfahrungen der Interrail-Tour.
Illustration: Magdalena Rawicka

Todmüde und zerknittert erreichen wir nach insgesamt 48 Stunden in Zug, Bus und auf dem Schiff das Sunrock Backpackers Hostel an Korfus Westküste. Spätestens jetzt kennen die Kinder den Unterschied zwischen Reisen und Urlauben, den Blick von der Terrasse übers tiefblaue Meer genießen sie umso mehr. Die Szenerie erinnert stark an den Film Mamma Mia, auch wenn der auf Skopelos gedreht worden ist. Donna alias Meryl Streep empfängt uns warmherzig, nur heißt Donna im Backpackers Hostel Madalena. Wie im Film laufen auch bei ihr die Geschäfte alles andere als gut. Dabei ist die Lage nach Meinung der Kinder nicht zu toppen.

Noch heute schwärmen sie davon. Genauso wie von handgemachten Pommes frites in Amsterdam, blökenden Schafen an schottischen Stränden, dem Eintauchen in die Potter-Welt in Großbritannien, dem Frühstück in der imposanten Bahnhofshalle von Milano Centrale, der Robbe Annabel im Hafenbecken von Mallaig ...

Ihre Eindrücke hat die ältere Tochter in einem Reisetagebuch festgehalten. 116 Seiten sind es am Ende geworden. Ihrer vier Jahre jüngeren Schwester mussten die Eltern versprechen, so eine Reise noch einmal mit ihr zu unternehmen, einfach von Ort zu Ort zu ziehen. Mit dem Zug mehr von Europa zu entdecken. Lieber heute als morgen. (Roland Wiedemann, RONDO, 26.7.2019)