Das als Buchfalz missbrauchte Fragment der ältesten Niederschrift des "Rosendorns" – für die Mittelalterforschung ein Sensationsfund.

Foto: Stift Melk

Ehe Papier in Europa als Schreibmaterial allgemeine Verbreitung fand, wurden Texte vor allem auf Pergament festgehalten. Die ungegerbten Tierhäute waren kostbar und wurden daher häufig wiederverwertet, indem man etwa die ursprüngliche Schrift abgekratzt hat, um das Material mit neuem Text zu versehen. Manchmal wurde altes, vermeintlich wertloses Pergament auch bei der Buchherstellung eingesetzt – was für die Mittelalterforschung ein großes Glück ist. Immerhin blieben so jahrhundertealte Schriftfragmente bis in die Gegenwart erhalten, die ansonsten wohl für immer verloren wären.

Auf ein solches Schriftstück sind nun Mittelalter-Spezialisten aus Deutschland und Österreich in der Stiftsbibliothek Melk gestoßen. Die Wissenschafter entdeckten einen schmalen, auf den ersten Blick unscheinbaren Streifen Pergament, der nur wenige Buchstaben pro Zeile enthält. In mühsamer Kleinarbeit identifizierten die Experten darin jedoch einen Text, der es in sich hat: Es handelt sich um eine durchaus pikante Geschichte, die man bisher nur aus zwei deutlich jüngeren Abschriften kannte, dem "Codex Dresden" und dem "Karlsruher Codex".

Unterschätzte erotische Literatur im Mittelalter

Der sogenannte "Rosendorn" berichtet davon, wie sich eine Jungfrau, eine "junkfrouwe", mit ihrer sprechenden Vulva ("fud") darüber streitet, wer von ihnen bei Männern den Vorzug genieße. Sie hält der Jungfrau dann vor, zu viel auf ihr Aussehen zu geben, wo doch eigentlich sie es sei, die die Männer begehren. In der Folge gehen beide getrennte Wege, was wiederum keine der beiden glücklich werden lässt, und so kommt es am Schluss zur Wiedervereinigung.

So bizarr der Text auch erscheint, "im Kern ist die Geschichte auch unheimlich klug. Es wird vorgeführt, dass man die Person sozusagen nicht von ihrem Geschlecht trennen kann", sagte Christine Glaßner vom Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), die das Fragment entdeckt hat.

Bedeutend für die Mittelalterforschung

Bisher hatte man angenommen, dass ein solch freier Umgang mit der eigenen Sexualität im deutschsprachigen Raum erst zum Ende des Mittelalters aufgekommen ist, also etwa in der städtischen Kultur des 15. Jahrhunderts. Der Melker Fund dagegen wurde um 1300 geschrieben und revidiert damit die bisherige Forschung. Anzunehmen ist, dass es bereits 200 Jahre zuvor Anlässe gab, bei denen derart freizügige Texte gedichtet, vorgetragen und vielleicht sogar inszeniert wurden. Offenbar wurden sie selten aufgeschrieben und haben noch seltener die Jahrhunderte bis heute überdauert. "Das ist natürlich bedeutend für die Interpretation dieser kleinen Geschichte", so Glaßner.

Das Melker Fragment stammt aus einem vormals vermutlich vollständigen Blatt, das zerschnitten wurde und als Falz streifen für den Einband eines lateinischen Werks diente. Aus welchen Gründen der "Rosendorn" zerschnitten wurde, kann man nur erahnen. Zu denken gibt, dass das Fragment in einem Melker Klosterband gefunden wurde – hat man im Kloster ein so verderbliches Buch schlichtweg vernichten müssen? Denkbar sei laut Glaßner auch ein deutlich pragmatischerer Ansatz: Nämlich, dass auf den Inhalt des Textes des als Bindematerial verwendeten Pergaments überhaupt nicht geachtet wurde.

Identifiziert wurde das Fragment von Nathanael Busch von der Universität Siegen. Nun wird es im Rahmen des Akademievorhabens "Handschriftencensus" der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz genauer beschrieben, das an der Philipps-Universität Marburg angesiedelt ist. (red, 24.7.2019)