Bei den Wahlen zum Obersten Rat (Verchovna Rada) in der Ukraine am 21. Juli hat die Partei des Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj, die absolute Mehrheit gewonnen. Nun verweisen einige Kommentatoren darauf, wie unerfahren diese neuen Abgeordneten seien und dass sie nur aufgrund der Popularität der Person des Präsidenten gesiegt haben. Tatsächlich wird mehr als die Hälfte der Rada-Abgeordneten neu im Parlament sein, sogar neu in der Politik überhaupt. In den Einzelwahlkreisen haben sich häufig "Neulinge" gegen "Profis" durchgesetzt¹. Soweit der Tenor der Kommentare in den ukrainischen Medien.

Abwahl der Partei des Krieges

Diese Erklärung des Sieges der gerade eben erst gegründeten Partei mittels der Popularität des Präsidenten reicht jedoch nicht aus, um die tatsächliche Situation der ukrainischen Demokratie zu verstehen. Deutlicher wird sie, wenn man zu den Ergebnissen der Partei des Präsidenten noch die Ergebnisse der zweitplatzierten Partei dazu nimmt, der Partei "Oppositionsplattform - für das Leben". Diese Partei wird häufig durch die Nähe ihres führenden Politikers, Wiktor Medwedtschuk, zu Wladimir Putin beschrieben – er ist Taufpate der Tochter des russischen Präsidenten und hat auch in den Tagen vor der Wahl durch ein ausführliches Gespräch mit Putin Wahlkampfunterstützung erhalten. Auch wird auf die Medien ("Kanal 112", "NewsOne", "Zik") im Besitz von Medwedtschuk verwiesen, wenn man seinen Wahlerfolg erklären will.

Auch das ist sicher nicht ganz falsch. Aber es fehlt noch das wichtigste Argument für den Erfolg dieser Partei: sie ist ebenso wie die Partei des aktuellen ukrainischen Präsidenten für einen baldigen Friedensschluss im Osten eingetreten. Die Ukrainerinnen und Ukrainer und besonders jene an der Frontlinie, haben den fünf Jahre währenden Krieg satt. Sie haben die "Partei des Krieges" (vor allem in Gestalt der Partei Poroschenkos) abgewählt. Dieser war mit den eindeutigen Losungen: "Armee, Sprache, Glauben“ angetreten. Damit wurde durch ihn sowohl eine Fortsetzung des militärischen Konflikts im Osten bis zum Sieg, als auch eine Fortführung der nationalistischen Linie bezüglich der Sprachen- und Kirchenpluralität angekündigt. Diese Linie jedoch fand bei der Mehrheit des Wahlvolkes keine Unterstützung mehr.

Präsident Selenskyj.
Foto: APA/AFP/SERGEI SUPINSKY

Poroschenkos umbenannte Partei kam in keinem Gebiet der Ukraine auch nur auf den zweiten Platz. Dagegen hat die Partei Medwedtschuks in den beiden östlichen Gouvernements Lugansk und Donezk knapp 50 beziehungsweise über 40 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinen können. In einigen weiteren Gebieten des Ostens und des Südens war sie ebenfalls relativ stark, so in den Gebieten Charkow, Saporoschje und Odessa, wo sie jeweils über 20 Prozent und damit den zweiten Platz hinter der Partei Selenskyjs erreichte. In weiteren vier Gebieten des Ostens und Südens kam die Partei "Oppositionsplattform – für das Leben" mit über zehn Prozent der abgegebenen Stimmen ebenfalls auf einen zweiten Platz unter allen angetretenen Parteien.

Ein weiteres Indiz dafür, dass die "Parteien des Krieges" eine deutliche Abfuhr durch die ukrainische Wählerschaft erfuhr, ist die Niederlage der extremen Nationalisten (Die Parteien "Swoboda", Nationales Korps und Rechter Sektor), die zusammen nicht mehr als etwas über zwei Prozent der abgegebenen Stimmen erreichten. Daraus wurde nun in einem Beitrag von "Ukraine World" jedoch die Annahme abgeleitet, dass die international geäußerte Sorge vor dem Einfluss der extremen Nationalisten auf die Politik der Ukraine übertrieben ist. Davon kann meiner Einschätzung nach jedoch leider keine Rede sein. Diese Gruppen waren auch schon vorher nicht durch ihre Vertretung in der "Verchowna Rada" einflussreich, sondern durch ihre offensiven Aktionen – etwa im Zusammenhang mit der Wirtschaftsblockade gegen die Separatistengebiete im Jahr 2017 – und die Bereitschaft des damaligen Präsidenten Poroschenko, dem Druck nachzugeben. Dieser letzte, ganz wesentliche Faktor des großen informellen Einflusses der extremen Nationalisten ist durch die Abwahl Poroschenkos sicher überwunden. Ob der neue Präsident den Provokationen der Rechten nachgeben oder das Machtmonopol des Staates gegen sie durchsetzen wird, ist im Moment noch nicht absehbar.

Abfuhr für das bisherige politische Establishment

Meine Schlussfolgerung aus den bisher nur vorläufigen Wahlergebnissen zum ukrainischen Parlament ist also eine andere. Die Popularität des Präsidenten und seine bisherigen zwei relativ inhaltsleeren Wahlkampagnen der Präsidentschafts- und Parlamentswahl 2019 sind sicher ein Argument dafür, warum er und seine Partei solche großen Erfolge beim Wahlvolk gehabt haben. Aber es kommen noch weitere Ursachen dazu. Die bisherige gesellschaftliche Transformation seit 1991 (seit der politischen Unabhängigkeit des Landes) hat viele Verlierer und nur wenige Gewinner gehabt. Diese Tatsache hat schon mehrfach zu Protesten gegen das politische Establishment und zur Abwahl bisherigen Regierungen geführt, so 2004 (Maidan 1), 2010 (gegen Juschtschenko), 2014 (Maidan 2 gegen Janukowitsch). Jetzt kommt es zum dritten großen Bruch. Immer wieder werden die Hoffnungen der Bevölkerung auf eine Änderung zum Besseren enttäuscht.

Dieses Mal aber kam noch ein weiterer Grund dazu: der Wunsch nach Frieden im Osten der Ukraine. Es geht dabei nicht nur um die großen Ressourcen, die durch diesen Krieg gebunden werden und die Vielzahl der menschlichen Opfer. Es ist offenbar vor allem für die Menschen in den beiden unmittelbar betroffenen Gebieten (Lugansk und Donezk) an der Zeit, wieder normale Verhältnisse herzustellen. Soweit ist das natürlich verständlich. Aber deutlich ist auch, ihr Votum richtet sich nicht allein gegen den russischen Aggressor, sondern ebenso gegen die eigene Kriegspartei. Diese wurde abgewählt.

Einen gewissen Anteil am großen Stimmungsumschwung hatte offenbar auch der Verdruss über die anhaltende nationalistische Offensive der vorherigen Regierung: Nach den Umbenennungen der Ortschaft und Straßen, dem Sturz der Denkmäler aus sowjetischer Zeit, sowie einer einseitigen Geschichtsdeutung kam nun noch die Offensive für eine Zurückdrängung der im Alltag der Ukrainerinnen und Ukrainer deutlich präsenten russischen Sprache (das entsprechende Gesetz wurde kurz vor dem Amtsantritt von Selenskyj noch durch das Parlament gebracht und von Poroschenko in Kraft gesetzt) und die Vereinigung der verschiedenen orthodoxen Kirchen in einer einzigen. Beide Aktionen waren Teil des Wahlkampfes des ehemaligen Präsidenten Poroschenko und beide waren ebenfalls Argumente der Wählerschaft gegen ihn. Nun hat die neue politische Klasse um Selenskyj die Möglichkeit, innenpolitische Reformen anzustoßen und auch außenpolitisch neue Vorstöße zu wagen. Die nächsten Wochen werden zeigen, wie sie mit diesem Wahlergebnis umgehen werden. (Dieter Segert, 31.7.2019)

Dieter Segert war von 2005 bis 2017 Universitätsprofessor für Transformationsprozesse in Mittel-, Südost- und Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien.

¹ Siehe die Analyse in der Zeitung "Strana" am 22.7.2019: Wie der Hochzeitsfotograf den Direktor von Motor-Sitschi besiegte. Wie die Partei "Diener des Volkes" in den Mehrheitswahlkreisen siegte.

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