Sonja Gabriel ist Professorin für Medienpädagogik und Mediendidaktik an der KPH.

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Gerhard Pölsterl ist Referent im Bundeskanzleramt in der Abteilung Jugendpolitik sowie Teil des BuPP-Teams und Kuratoriums.

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"Begrabe mich, mein Schatz" ist ein Serious Game, bei dem es um Flucht und Hoffnung geht.

Foto: Begrabe mich, mein Schatz

STANDARD: Wer spielt heute eigentlich Videospiele und wieso?

Sonja Gabriel: Es gibt jetzt nicht mehr eine bestimmte Gruppe an Gamern – es wird quer durch die Bank gespielt, von sehr jungen Spielern bis hin zu Senioren. In den vergangenen Jahren hat man festgestellt, dass das Gaming bei Pensionisten sehr stark zunimmt. Der durchschnittliche Gamer ist daher laut Statistiken um die 36 Jahre alt. Dieses Klischee, dass nur ganz Junge spielen, gibt es somit nicht mehr.

Die Gründe sind sehr unterschiedlich. Es gibt viele, für die Gaming ein Hobby ist und die durch Freunde dazugekommen sind. Bei Kindern gibt es teilweise auch einen gewissen Gruppenzwang. Wenn alle spielen und ich mitreden will, dann muss ich das auch spielen – Stichwort "Fortnite". Es gibt Studien aus den USA, dass Menschen Online-Welten als "Third Place" ansehen: Also neben Wohnort und Arbeitsplatz/Schule ist das Game der dritte Ort, an dem ich mich wohlfühle, gerne bin und Freunde habe. Man darf auch Casual Games nicht vergessen, die man zwischendurch spielt um beispielsweise Wartezeiten zu überbrücken.

Gerhard Pölsterl: Hier muss man auch dazuerwähnen, dass der durchschnittliche Gamer nicht nur 36 Jahre alt ist, sondern auch zu 50 Prozent weiblich. Auch hier gibt es ja das Klischee, dass nur junge Burschen spielen. Das stimmt heute einfach nicht mehr.

STANDARD: Gibt es hier Unterschiede bezüglich der Plattform der Wahl?

Gabriel: Die wichtigste Spielekonsole ist das Smartphone geworden, weil man es einfach immer mit hat und weil sehr viele Games darüber laufen. Wenn ich große Online-Rollenspiele nutzen will, werde ich natürlich einen PC brauchen, und dann gibt es auch Dauerbrenner wie "Fifa", das eine Konsole voraussetzt. Wenn man sich den Durchschnitt ansieht, spielen die meisten aber mit dem Smartphone.

STANDARD: Shooter galten lange Zeit als sogenannte "Killerspiele", die zu Amokläufen oder echter Gewalt führen. Hat sich diese Angst bewahrheitet?

Gabriel: Es gibt bereits einige Untersuchungen, die belegen, dass Menschen keine Gewalt aus Videospielen mitnehmen. Diese Studien beziehen sich aber meistens auf Erwachsene. Wie das bei Jugendlichen aussieht, wird derzeit noch untersucht. Bei Erwachsenen kann man das aber ausschließen – es sei denn, jemand ist bereits mental angeschlagen. Dann reicht ein gewalthaltiger Film allerdings genauso.

STANDARD: Sind Altersfreigaben das richtige Mittel, um zu verhindern, dass Kinder keine Gewaltspiele spielen, oder braucht es vermehrter Aufklärung?

Pölsterl: Mit dem Projekt Bundesstelle für die Positivprädikatisierung von digitalen Spielen (BuPP) sind wir im Bundeskanzleramt auf der Aufklärungsschiene. Dinge, die verboten werden, sind umso interessanter. Ich kann von Besuchen in Volksschulen berichten, wo "GTA 5" gespielt wird. Die Hauptmotivation ist – zumindest vermute ich es – die Altersfreigabe (PEGI 18), die draufsteht und wo man cool ist, wenn man so ein Game spielt.

Wichtig ist es für uns, dass wir eine Kompetenzsteigerung von Jugendlichen erreichen. Der Idealfall ist, dass Teens in die digitalen Welten eintauchen und sich dort kompetent und unbedarft verwirklichen können.

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Gabriel: Aufklärung ist wichtig. Digitale Spiele gehören zur Lebensumwelt von Kindern und Jugendlichen, und ich denke, dass auch Schulen sich daran beteiligen sollten. Viele Lehrer haben leider keine Ahnung, was es für Spiele gibt und was diese bewirken. Volksschulkinder führen etwa "Fortnite"-Tänze vor, und die Pädagogen wissen nicht, worum es geht, finden es aber eh ganz lieb. Auch bei Erwachsenen sollte Aufklärung betrieben und das Thema stärker thematisiert werden. Etwa, was und warum Kinder spielen und was sie daran so fasziniert. Natürlich sollte man hier auch thematisieren, was das Spiel mit dem Kind macht – es ist ja immer ein Geben und Nehmen.

STANDARD: Kommen wir zum Thema "Gaming-Disorder". Kürzlich wurde die Videospielsucht als offizielle Krankheit anerkannt. Begrüßen Sie diesen Schritt oder sehen Sie das kritisch?

Pölsterl: Ich sehe das positiv und negativ. Gut ist es, dass es aufgrund der Anerkennung vermehrt zu einer Behandlung kommt. Es gibt einen durchaus kleinen Teil, wo eine gewisse Abhängigkeit da ist. In der Regel muss man aber sagen, dass Menschen vermehrt spielen, wenn es externe Einflussfaktoren gibt. Daheim läuft eine Scheidung, jetzt haue ich mich in die virtuelle Welt hinein, um von dem Streit nichts mitzubekommen – um ein Beispiel zu nennen.

Gut ist es aber auf jeden Fall, dass man sich mit der Videospielsucht beschäftigt und sie nicht tabuisiert. Schlecht ist es jedoch, dass eine Stigmatisierung hervorgerufen werden könnte. Da muss man extrem aufpassen in meinen Augen.

Gabriel: Ich denke, dass man mit dem Begriff Sucht im Zusammenhang mit digitalen Medien sehr leichtfertig umgeht. Dieses exzessive Spielen, was vielleicht nur eine Zeit andauert und wieder von alleine aufhört, wird dann oft als Sucht bezeichnet, und hier liegt die Gefahr.

Das Positive an der Gaming-Disorder ist, dass vielleicht auch die Hersteller von Computerspielen in die Pflicht genommen werden, dass mehr in Richtung Jugendschutz passiert.

STANDARD: Ist eine Begrenzung der Spieldauer von Kindern durch Eltern eigentlich sinnvoll?

Gabriel: Das kann man nicht so generell beantworten. Es hängt natürlich auch davon ab, um welches Spiel es sich handelt und was dabei gemacht wird. Manche Games sind extrem kreativ und kommunikativ und fördern sehr viele Kompetenzen. Ich mache dann immer gerne den Vergleich, ob man einem Kind verbieten würde, stundenlang ein Buch zu lesen. Durch den Leitmedienwechsel zu den digitalen Medien glaubt man, dass alles schlecht ist. Das haben wir bereits bei den Büchern gehabt. Da hieß es genauso, dass Frauen nicht lesen sollten, weil das ganz schlecht ist und sie dann womöglich ins Irrenhaus kommen, wenn sie zu viel lesen und alles vernachlässigen. Beim Fernsehen hieß es dann: Das Fernsehen verdummt. Jetzt sind es halt die Spiele und digitale Medien.

Wenn etwas vernachlässigt wird, muss man sich wiederum fragen: Ist das Spiel nur die Flucht, weil ich im falschen Schultyp bin, mich die Schule nicht interessiert, ich aber gleichzeitig gut im Spiel bin? Man muss da sehr unterscheiden und aufpassen. Von diesen zeitlichen Begrenzungen halte ich ehrlich gesagt nicht viel. Wenn jemand nämlich fünfmal die Woche stundenlang am Fußballplatz steht, wird das wiederum gesellschaftlich akzeptiert. Für mich ist das keine Ja-Nein-Frage, sondern man muss vielmehr schauen, warum und was gemacht wird, und mit dem Kind und Jugendlichen darüber reden. Was ist denn das, was findest du daran so toll? Was machst du denn alles damit?

STANDARD: Sind Lootboxen Glücksspiel und muss der Gesetzgeber reagieren?

Gabriel: In eine gewisse Richtung ist es Glücksspiel, ja. Hier ist es aber wichtig, dass man Kinder und Jugendliche zu Lootboxen und Mikrotransaktionen aufklärt, weil diese teilweise in die Schuldenfalle führen können. Verbote machen das nur interessanter. Wichtiger wäre es, wenn man Kindern und Jugendlichen Financial Skills beibringt und ihnen diese Mechaniken rund um Lootboxen und Mikrotransaktionen nahebringt. Wenn man mit den Kindern darüber spricht, wären diese Elemente gar kein so großes Problem.

Pölsterl: In Österreich gibt es zu Lootboxen noch keine offizielle Position. Die Debatte läuft auf verschiedensten Ebenen, also auf Verwaltungsebene, wo wir im Austausch mit der Glücksspielbehörde sind, wie auch auf wissenschaftlicher Ebene wie im Fall der FROG (Future and Reality of Gaming). Ich denke, dass ein Diskurs darüber notwendig ist und vor allem ein Beobachten. Ich empfehle Eltern, dass sie keine Kreditkartendaten im App-Store hinterlassen und beim Mobilfunkbetreiber urgieren, dass nicht automatisch über die Handyrechnung etwas abgebucht werden kann.

Electronic Arts

STANDARD: Zuletzt noch: Welche Benefits bringen Videospiele eigentlich mit sich?

Gabriel: Sehr viele. Es gibt beispielsweise Serious Games, die weit mehr tun als nur unterhalten. Sie bieten für das Lernen sehr viele Ansätze, weil sie sehr motivierend sind, wenn sie gut gemacht sind. Ich bin starke Verfechterin davon, dass diese auch im Schulunterricht eingesetzt werden. Sinnvoll natürlich, pädagogisch und didaktisch eingebettet in ein Szenario. Dann kann man wirklich wahnsinnig tolle Sachen damit machen.

Wenn man sich auch anschaut, was freiwillig rund um Games passiert, seien es die Let's Plays, Walkthroughs oder Foren, wo Wissen kreiert wird, dass man besser im Spiel vorankommt, ist das ein wahnsinniges Potenzial, was da entsteht. Auch im Bereich Games for Health sehe ich viele Möglichkeiten. Spiele, die etwa zur Bewegung animieren und in der Reha oder in Seniorenheimen eingesetzt werden. Auch im Bereich Jobtraining sind Spiele schon lange angekommen, etwa bei Medizinern wie Chirurgen.

Sonst sind noch Spiele zu nennen, die veranschaulichen, welche Probleme es gibt. Im Bereich mentale Gesundheit etwa "Depression Quest" oder "Sea of Solitude" oder zur Thematik Empathie Games wie "Pathout" oder "Begrabe mich, mein Schatz". Diese zeigen auf, wie es Flüchtlingen geht, wenn sie ihre Heimat hinterlassen. Solche Spiele können wahnsinnig viel bewirken, einfach weil so viele Emotionen in Games sind – und gerade durch die Interaktivität berühren diese oftmals viel mehr, als es ein Buch oder Film tut. (Daniel Koller, 27.7.2019)