Am morgigen Samstag beginnt in Rom die Untersuchung von tausenden Knochen, die Mitte Juli in zwei in Vergessenheit geratenen Beinhäusern auf dem deutschen Friedhof im Vatikan gefunden worden sind. Als Erstes sollen die gefundenen Gebeine datiert und morphologisch untersucht werden. Falls sich darunter Knochen befinden, die von einem Mädchen stammen könnten, das vor rund 36 Jahren gestorben ist, werden diese anschließend einem DNA-Test unterzogen. Auf diese Weise, hofft Pietro Orlandi, könnte festgestellt werden, ob seine Schwester Emanuela auf dem Campo Santo Teutonico ihre letzte Ruhestätte gefunden hat.

Angesichts der beträchtlichen Menge des zu untersuchenden Materials wird sich Emanuelas Bruder in Geduld üben müssen: Es dürfte Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis erste Ergebnisse vorliegen. Aber die neuen Untersuchungen stellen für Pietro Orlandi zumindest eine Hoffnung dar, etwas über das Schicksal seiner Schwester zu erfahren.

Über eine Falltür erreicht man jene Beinhäuser, in denen tausende Knochen gefunden wurden. Von wem sie stammen, soll in den nächsten Wochen festgestellt werden.
Foto: AFP / Vatican Media

Leere Gräber

Die letzte Hoffnung hatte sich am 11. Juli zerschlagen, als auf dem deutschen Friedhof zwei Gräber geöffnet worden waren, in denen die sterblichen Überreste Emanuelas vermutet wurden. Die Gräber von Sophie von Hohenlohe (gestorben 1836) und Herzogin Charlotte Friederike zu Mecklenburg (gestorben 1840) waren leer. Stattdessen wurde ganz in der Nähe eine Falltür entdeckt, die zu den beiden Beinhäuser führt, in denen sich die nun zu untersuchenden Knochen befanden.

Das Verschwinden des damals 15-jährigen Mädchens bleibt vorerst eines der größten Mysterien der Ewigen Stadt. Emanuela Orlandi, Tochter eines Hofdieners von Papst Johannes Paul II., war am 22. Juni 1983 wie jeden Mittwoch außerhalb des Kirchenstaats zum Musikunterricht gegangen.

Auf dem Rückweg zu ihrem Elternhaus im Vatikan verschwand das Mädchen spurlos – und ist nie wieder aufgetaucht. Der Fall Orlandi hat vatikanische Ermittler und italienische Staatsanwälte jahrzehntelang beschäftigt. Um das Schicksal der Schülerin ranken sich die wildesten Spekulationen und Verschwörungstheorien. Die Justiz hatte ihre Ermittlungen erst 2015 eingestellt.

Spekulation um Ali Agca

Lange waren osteuropäische Geheimdienste oder die türkischen Grauen Wölfe hinter der mutmaßlichen Entführung vermutet worden: Die Kidnapper hätten den inhaftierten Papstattentäter Ali Agca freipressen wollen.

Emanuela Orlandis Bruder Pietro gibt bei der Suche nach seiner Schwester nicht auf.
Foto: AFP/ANDREAS SOLARO

Gemäß einer anderen Theorie wurde das Mädchen von der römischen Mafia, der Magliana-Bande, entführt, um von der Vatikanbank (IOR) eine hohe Geldsumme zurückzuerhalten, die der Bandenboss Enrico De Pedis dem IOR zum Waschen übergeben haben soll. Der Gangster soll sich die entführte Orlandi auch gleich noch zur Geliebten gemacht haben.

Interessanterweise war De Pedis, nachdem er 1990 in Rom auf offener Straße erschossen worden war, in der Basilika Sant'Apollinare beigesetzt worden – eine Ehre, die nach kanonischem Recht eigentlich nur Bischöfen und Kardinälen gebühren würde. Der Vatikan war in Erklärungsnot, und die römischen Staatsanwälte wurden stutzig: Wäre es möglich, dass in dem Sarkophag in der Krypta von Sant'Apollinare nicht nur De Pedis, sondern auch sein einstiges Entführungsopfer ruht? Die Ermittler ordneten 2012 eine Exhumierung an. Im Grab lag der noch gut erhaltene De Pedis, nicht aber Emanuela Orlandi.

Wirbel um angebliche Vatikan-Akte

Vor drei Jahren hat dann eine Akte aus dem Vatikan für Aufsehen gesorgt, die dem Corriere della Sera und der Repubblica zugespielt worden war. Das Dokument ließ eigentlich nur einen Schluss zu: Orlandi ist von Kirchenmännern entführt worden.

Das war schon immer die populärste und zugleich morbideste Hypothese: Das Mädchen sei abgepasst worden, um es für Sexspiele in der Kurie zu missbrauchen, an denen insbesondere der skandalumwitterte damalige Chef des IOR, Kardinal Paul Marcinkus, aber auch ausländische Diplomaten beteiligt gewesen sein sollen. Später sei die Schülerin getötet und "entsorgt" worden.

Ausgaben für "Fernhalten von Zuhause"

Das Dossier trug den Titel "Summarischer Rechenschaftsbericht über die Ausgaben des Staats der Vatikanstadt für die Aktivitäten bezüglich der Bürgerin Emanuela Orlandi". Es listete Ausgabeposten betreffend das "Fernhalten von Zuhause", "Raten für Kost und Logis" (in einem Kloster in London), "gynäkologische Leistungen" und "Ortswechsel" auf.

Reichlich makaber ist schließlich der letzte Ausgabenposten der Liste vom Jahr 1997: "Generelle Aktivitäten und Überführung in den Vatikanstaat, mit zugehöriger Abwicklung der finalen Amtshandlungen: 21.000.000 Lire". Laut Vatikan handelte es sich bei der brisanten Akte freilich um eine Fälschung.

Im Vatikan wird immer wieder dafür demonstriert, Emanuela Orlandis Schicksal aufzuklären.
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Die Familie von Emanuela Orlandi und ihre Anwältin Laura Sgrò unterstellen dem Vatikan seit Jahrzehnten, mehr über das Verschwinden des Mädchens zu wissen, als offiziell zugegeben werde. Auch nach dem Entdecken der beiden leeren Gräber und der beiden vergessenen Beinhäuser war dies nicht anders. "Es ist offensichtlich, dass der Fall Orlandi innerhalb des Kirchenstaats einen offenen Nerv trifft: Am Heiligen Stuhl gibt es Leute, die die Informationen herausrücken wollen. Aber es gibt auch die anderen, die dafür sorgen, dass das nunmehr seit 36 Jahren andauernde Schweigen aufrechterhalten bleibt", erklärte Anwältin Sgrò.

Dass der Fall Orlandi innerhalb der vatikanischen Mauern für eine Vendetta instrumentalisiert werden könnte, kann in der Tat nicht ausgeschlossen werden. Seit langem intrigieren ultrakonservative Traditionalisten gegen den vermeintlich liberalen Papst Franziskus.

Kampagne gegen den Pontifex

Die Papstgegner werden in Italien unterstützt von rechtsgerichteten, der Lega von Innenminister Matteo Salvini nahestehenden Blättern, die eine regelrechte Diffamierungskampagne gegen den Argentinier auf dem Papstthron führen. Franziskus vorzuwerfen, dass der Vatikan im Fall Orlandi auch unter seiner Führung Informationen zurückhalte, würde ganz gut in diese Negativkampagne passen.

Dabei wird meist ein kleines Detail übersehen: Nach 36 Jahren intensivster Ermittlungen seitens der italienischen Justiz ist bis heute kein einziges belastbares Indiz aufgetaucht, das eine Verbindung des Vatikans mit Emanuelas Verschwinden nahelegen würde. (Dominik Straub aus Rom, 26.7.2019)