Die Lederkluft wurde am Nasenring zu Hause an die Wand gehängt und durfte diesmal nicht mit auf die Bühne: Wurst.

Foto: APA/HERBERT PFARRHOFER

Outfitwechseln ist auf der kleinen Bühne nicht. Man hat sich also relativ klassisch für eine Art Poncho-Leiberl mit Fransen entschieden. Nach blond und Glatze stehen wir frisurentechnisch nun bei dunkel und raspelkurz mit Bart. In broadem Dialekt sagt Tom "Grias eich" und Danke, dass er hier sein darf, denn das Line-up sei eine Sensation. Ja ja. Das Album kommt im Herbst. "Und wos hob i ma no aufgschriem?" Ach ja, es ist tatsächlich sein erster Bandgig als Wurst.

Seit März empowert Diversitätsmanagerin Conchita im Nebengeschäft nach den LGBTIQs auch die Fetischfraktion. Die neuen Songs hätte sie zwar bei halber Geschwindigkeit vielfach auch mit Langhaarperücke singen können, aber man streut das Risiko, indem man sein Portfolio streut. Heutzutage ist das besondere Etwas ja schnell aufgebraucht.

Latexglam

Allzu programmatisch braucht man mit Kunstfigur #1 brechende Titel wie "Trash All the Glam" aber nicht zu nehmen. Tom Neuwirth mag noch immer den großen Auftritt und Glitzer auf nackter Haut oder zumindest rund um die Augen. Außerdem kann ein Latexanzug schön schimmern. Bleibt der Kinderschreck zuweilen trotzdem im Schlafzimmerkasten, hüllt der, die, das Wurst sich, wo nötig, in eine lila Spielzeugsoldatenfantasieuniform mit Ausschnitt bis zu den Brustwarzen. Dass sie inzwischen Muskeln hat, kommt auch daher, dass man zu der Musik und in dem Gewand besser und mehr tanzen kann als in den Kleidern vorher.

Aber beim Popfest am Wiener Karlsplatz doch eher im Understatementmodus. Die arge Fetischphase scheint schon wieder vorbei. Lack und Leder mag eben doch nicht jeder und ist wie James-Bond-Musik aus den 70ern heute mehr so die Marktlücke denn formatradiotauglich.

Guter Pop

Zu sehen und zu hören gibt es stattdessen gut gemachten Pop, manchmal leicht rockig, manchmal mit kleinem Chor im Rücken fast spirituell. Ihre "Body Experience" will ihm keiner absprechen. "Hit Me" ist wirklich eingängig und eines der wenigen Lieder, die man schon im Ohr hat und schnell dort behält. Geschrieben hat alle Songs die Wiener Sängerin und Songwriterin Lylit. Wurst hält damit nicht hinterm Berg: Was es in Wien für tolle Musiker gibt! Lylit macht die Nummern aus Geschichten, die Tom passiert sind und die er ihr erzählt.

Man kann ihre Beine abschneiden, sie wird trotzdem weitergehen. Ihr Herz und ihre Hände ist so stark zur Musik, singt die, der, das Wurst in "To the Beat". Verrückt, wie viele sie mit jeder kleinen Regung noch immer verrückt machen kann. Wollen wir nicht lieber das Licht sehen? Sie würde es uns nämlich zeigen ... Lylit kennt ihn schon zu gut, schwant Tom.

Gemessen an den ersten PR-Aktionen der neuen Kunstfigur kraftmeiern die Songs live weniger. "To the Beat" hat auf der Bühne viel weniger Beat. Statt zackig zu stolzieren, geht Wurst mit Knicks in die Knie und wackelt. Keiner muss sich schrecken.

Musik zum Entspannen

Wir sind hier definitiv nicht im erwarteten SM-Partykeller. Tom ist beim Popfest gefühlsmäßig eher zu Gast bei Freunden im Wohnzimmer, dafür zwängt man sich nicht in Latex, schwarze Overkneestiefel müssen reichen. Diese Wurst schmeckt nach Conchita light. Endlich hat die Diva Musik für Tage, an denen ihr die große Robe und die ganz langen Wimpern zu viel Aufwand sind. Heute bitte auch keine ganz hohen und ganz langen Töne! – Okay!

Das noch schmale Œuvre wurde dennoch mit dem Besten des Alter Egos aufgefettet, da konnte das Popfest-Publilum dann auch schon mitsingen. Als Zugabe breitet – alte Gewohnheiten derschlagt man so schwer – der Phönix die Schwingen aus. Auf die nächste Wiedergeburt nun als Fleischlaberl darf man gern warten. Diese Mucke ist auf unangestrengt lässige Art kantig. Conchita hat noch nie so heutig und interessant geklungen. Wie cool wäre das einfach in Hose und Hemd gewesen. (Michael Wurmitzer, 26.7.2019)