"Wer steht denn über mir? Wahrheit kennt keine Grenzen." So spricht Kapitän Ahab zur Mannschaft des Walfängerschiffs Pequod in Herman Melvilles weltberühmtem Roman Moby-Dick oder der Wal von 1851. Jahrzehntelang war dieser "unendliche Roman", wie der Argentinier Jorge Luis Borges ihn genannt hat, aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Erzählt wird die Geschichte in der Ich-Form von Ishmael, einer frei schaltenden Persönlichkeit ohne Vorgeschichte oder erkennbare Verbindung zu anderen Menschen.

Den Wal zur Strecke bringen

Melvilles Ahab will mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln jenen weißen Wal zur Strecke bringen, der ihn einst verstümmelt hat. Moby Dick ist für Ahab "die Mauer, dicht vor mich hingestellt (...), er fordert mich heraus, er überhäufet mich". Von Ahabs erstem Erscheinen an tritt Ishmael als erlebendes Ich stark zurück, gewinnt aber später eine gewisse Überlegenheit, weil er sich im naturwissenschaftlichen Bereich über den Walfang, das Jagen und Erlegen bis zur Verarbeitung der Beute kundig gemacht hat.

Aber die Gestalt, die immer mehr in den Vordergrund rückt, ist Ahab, der sich auf keinerlei Grübeleien einlässt. Die Jagd auf Moby Dick dauert nur drei Tage. Ein Boot nach dem anderen zerstört der weiße Wal. Vergeblich versucht die Mannschaft, Ahab von seiner wahnsinnigen Verfolgungsjagd abzubringen.

Doch der bäumt sich weiter auf, bis er schließlich von seinem eigenen Harpunenseil in die Tiefe gerissen wird und noch sieht, wie die Pequod im Meer versinkt. Nur Ishmael überlebt die Katastrophe. Der Einfluss der Bibel und von Shakespeare auf Sprache und Struktur des Romans ist evident. Vor allem aber auch eigenes Erleben und Erfahrungen, die der aus einer verarmten New Yorker Familie stammende Autor gesammelt hat.

Völlig fremde Welt

Er ging früh zur See und geriet auf einem Walfänger auch in die Südsee, wo er die ihm völlig fremde Welt der Eingeborenen kennenlernte. Nach seiner Rückkehr in die USA lebte er zunehmend vereinsamt in New York und schrieb neben seiner Arbeit als Zollinspektor zahlreiche Erzählungen, darunter auch die Geschichte von Billy Budd, die neben Moby-Dick als sein zweites Meisterwerk gilt und die er zum Glück noch in seinem Todesjahr vollenden konnte. Der Schriftsteller Thomas Mann hat Billy Budd als eine "der schönsten Erzählungen der Welt" gerühmt.

Als Melville 72-jährig starb, nahm die Öffentlichkeit davon keine Notiz. Auch sein Erstlingswerk, die mythische Fabel Typee, sowie seine Romane Mardi, Redburn, White Jacket, Pierre, Israel Potter und The Confidence-Man waren längst vergessen oder verschwanden unter dem nach dem Ersten Weltkrieg neu wachsenden Ruhm im Schatten von Moby-Dick.

Die übermächtige Natur

Diese weltpoetische Apologie des menschlichen Empörertums gegen die übermächtige Natur hatte Melville dem von ihm verehrten Nathaniel Hawthorne gewidmet. Bis in unsere Zeit aber können sich manche Leser mit der brachialen Spiritualität des Kapitän Ahab nicht anfreunden, der sich in seiner Rachsucht verliert und trotzig aus sich herausschreit: "Ich würde selbst die Sonne schlagen, wenn sie mich beleidigt."

Er wehrt sich aber auch gegen den von ihm nicht erkannten Gott, nicht nur gegen die Tyrannei der Natur. Denn wie sein Schöpfer Melville ist auch Ahab kein Christ, sondern Gnostiker. Ahabs Ähnlichkeit mit King Lear, seine Auftritte oft in szenischer Form, machen ihn gerade auch in seiner wütenden Verzweiflung zu einer ehrfurchtgebietenden Persönlichkeit, die wir nicht lieben, aber wegen ihrer Grandiosität bewundern. (Wolf Scheller, Album, 27.7.2019)