Im Laufe seines Lebens, so Paul Lendvai, habe er so viele gewagte Thesen gehört, dass er den "großen Entwürfen" und Spekulationen über die Zukunft skeptisch gegenüberstehe. Ist die Welt um so vieles unberechenbarer geworden? Als Paul Lendvai in den 1950er-Jahren seine journalistische Laufbahn begann, waren die politischen Muster noch einfacher, damals hatte gerade der Neostalinismus die Reformansätze in Polen und Ungarn zunichtegemacht, und dabei blieb es auf lange Sicht, der Kalte Krieg trennte die Welt in zwei unterschiedliche Blöcke. Heute gehen die Trennlinien quer durch Kontinente, Staaten, Gesellschaften. Ideologien verlieren an Bedeutung, immer mehr Populisten dominieren die Politik.

Paul Lendvai, "Die verspielte Welt. Begegnungen und Erinnerungen". € 24,- / 238 Seiten. Ecowin-Verlag, Salzburg/München 2019
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Als Journalist, Übersetzer, Korrespondent hat Paul Lendvai in mehr als 60 Jahren die Entwicklungen in Mittel- und Südosteuropa teilweise hautnah miterlebt. Gleich seine erste Auslandsreise nach Warschau im Jänner 1957 wurde für ihn zum "Wendepunkt" in seinem Leben. Damals wurden in Ungarn gerade Aufständische hingerichtet und Schriftsteller verhaftet. Noch im selben Jahr flüchtete er über Prag nach Österreich, seither ist er ein genauer Beobachter der Zeitläufte: die Jahrzehnte der europäischen Trennung, das Jahr 1989 und die damit verbundenen Hoffnungen und Enttäuschungen, am Ende die Rückkehr des Nationalismus.

Zurück in die Geschichte Ungarns

Gerade in Bezug auf Ungarn ist es eine für ihn schmerzliche Entwicklung. 2010, als Viktor Orbán daranging, die Demokratie Stück für Stück abzubauen, hat Lendvai ein Buch veröffentlicht, das Mein verspieltes Land hieß und eine düstere Perspektive auch für Europa zeichnete.

Das neue Buch heißt Die verspielte Welt - das klingt dramatisch, geht es doch ums Ganze, und es geht dennoch nicht, wie man eher erwarten würde, um die Klimakatastrophe, vielmehr um den Verlust von politischer Vernunft und Moral. Ungarn ist also kein Einzelfall, Orbán nicht der einzige Autokrat. Allein Ex-Jugoslawien und seinen Politikern hat Lendvai drei Kapitel gewidmet, eines davon kreist um die Frage, was Peter Handke nur veranlasst hat, einem Kriegsverbrecher (Slobodan Milosevic) eine leidenschaftliche Grabrede zu halten.

"Die unersetzlichen Werte der liberalen Demokratie verteidigen": Paul Lendvai
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Orbán aber ist Gegenwart, genauso der "umstrittenste Auslandsungar" George Soros, der seinem Gegenspieler die ideale Angriffsfläche bis hin zu antisemitischen Weltverschwörungstheorien bietet. Um das begreifbar zu machen, geht Lendvai in die Geschichte Ungarns zurück, in jenes bis heute nicht überwundene "Trauma von Trianon", als das Land "unbarmherzig" zerteilt wurde und man als Schuldige später die "jüdischen Agenten des Weltbolschewismus" ausmachte, kurz: "die Juden", sie allein hätten das Land ins Unglück gestürzt.

Mit "sachlichem" Herzblut

Es ist erstaunlich, wie langlebig solche negativen Mythen sind, man wird Orbán, aber auch ähnliche Strömungen in ganz Osteuropa, nicht verstehen ohne diesen sehr tiefen geschichtlichen Nährboden. (Am Rande, nur am Rande, erwähnt Lendvai, wie er 1976 erstmals Auschwitz besucht hat, wo seine Großeltern und zahlreiche Verwandte von ihm ermordet wurden.)

Die Abschnitte über Orbán und Soros sind gewiss die beiden tiefgründigsten, mit "sachlichem" Herzblut geschriebenen Kapitel dieses Buches, die nicht zuletzt die aktuelle Krise Europas, der Demokratie beleuchten und "im Spiegel persönlicher Erfahrungen" eine intime Geschichte der Politik erzählen, von der niemand sagen kann, wie sie weitergeht. Vielleicht gerade deswegen hat Lendvai noch ein letztes, ebenso persönliches Kapitel hinzugefügt: "Mythos Macht: Die Verführbarkeit der Herrschenden".

Darin ist nicht nur von der "Sehnsucht nach dem starken Mann" die Rede, hier werden auch die Schattenseiten des "Sonnenkönigs" Kreisky analysiert, den Lendvai 30 Jahre lang "in allen Phasen" erlebt hat. Ganz allgemein wird das "Charisma" von Politikern hinterfragt bzw. welche Fehlentwicklungen sich auftun, wenn einem die Macht über den Kopf wächst.

Merkel als Ausnahme

Lendvais Beispiele reichen vom deutschen Ex-Kanzler Schröder bis zu Androsch und Gusenbauer, die zum einen dem Mythos Macht erlegen sind, zum anderen der Missgunst der eigenen Partei zum Opfer fielen, einer Partei, so Lendvai, in der damals wie heute "kleinkarierte und engstirnige Funktionäre den Ton" angeben.

Übrigens: Dem Wiener Altbürgermeister Häupl wird ein ebenso schlechtes Zeugnis ausgestellt, Ex-Kanzler Kern kommt erst gar nicht vor. Während Angela Merkel als "Ausnahmepersönlichkeit" gewürdigt wird, ist bei Macron bereits das Moment der "Entzauberung" eingetreten, und auch für Sebastian Kurz gilt, zumindest vorübergehend, das Schema von Aufstieg und Fall.

Man mag persönliche Befindlichkeiten oder einen Paradigmenwechsel verantwortlich machen, auf alle Fälle hat der Populismus die Politlandschaft nachhaltig verändert. "Wir leben in einer Welt", so Lendvai, "die ihre Chancen verspielt, in der alte Gewissheiten über Nacht verschwinden." Gerade deswegen gelte es umso mehr, "die unersetzlichen Werte der liberalen Demokratie" zu verteidigen. (Gerhard Zeillinger, Album, 27.7.2019)