Woodstock fand bekanntlich nicht in Woodstock statt. Der idyllische Ort in den Catskill Mountains zwei Autostunden nördlich von New York mochte eine lange Tradition als Rückzugsort für Künstler und Musiker haben. Passendes Gelände für ein großes Musikfestival ließ sich in der unmittelbaren Umgebung aber keines finden.

Im mühsam aufgetriebenen Ausweichort Wallkill verweigerten besorgte Einheimische in letzter Minute die notwendigen Genehmigungen. Drei Wochen vor dem geplanten Festivalbeginn hieß es für die Veranstalter zurück an den Start. Es waren schließlich die Wiesen des Milchbauern Max Yasgur in Bethel, rund 100 Kilometer südwestlich von Woodstock, auf denen vom 15. bis 18. August 1969 jene "3 Days of Peace & Music" mit geschätzten 400.000 Besuchern stattfanden, die zum Inbegriff eines friedlichen Gipfeltreffens der Hippie-Generation werden sollten.

Rund 400.000 Menschen kamen Mitte August 1969 nach Bethel, wo das Woodstock-Festival stattfand.
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Den Eindruck, den die Veranstalter beim ersten Anblick des leeren Konzertgeländes gehabt haben mochten, vermittelt in Barak Goodmans neuem Dokumentarfilm "Woodstock – Drei Tage, die eine Generation prägten", zu sehen am Mittwoch um 22.45 Uhr auf ARD, eine hochschwebende Kamera, vor der sich ein natürliches Amphitheater auftut. Es ist so gut wie die einzige Filmaufnahme aus dem Heute, ein perfekt gesetzter Gänsehautmoment, der so etwas wie eine zeitlose Magie des Ortes vermittelt.

100 Stunden Originalmaterial

Goodman hat in seiner Doku eine spannende Geschichte zu erzählen, die mit der Planung eines Festivals beginnt, das seinen Organisatoren schnell über den Kopf wächst, und bis zum Nachhall bei den Besuchern reicht. Er konnte dabei auf jene über 100 Stunden Originalmaterial von 20 Kameraleuten zurückgreifen, aus denen auch Michael Wadleigh für seine 1970 in Kinos in aller Welt gestartete Dokumentation "Woodstock" schöpfte.

Es war Wadleighs dreistündiger Film, an dem junge ambitionierte Filmemacher wie der spätere Meisterregisseur Martin Scorsese mitarbeiteten, der das Festival zusammen mit einer Dreifach-LP des Soundtracks erst richtig als Pop-Mythos etablierte und nachträglich doch noch zum Geschäft machte.

Die Bilder von Woodstock gingen nicht zuletzt dank des Kinofilms von Michael Wadleigh um die Welt.
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Tatsächlich ist die Musik des Festivals derart im kollektiven Gedächtnis verankert, dass sich Goodman darauf beschränken kann, Schlüsselperformances nur anzureißen, um dann auf ein kaum weniger spannendes Rundherum zu fokussieren. Nicht verzichtet wird auf ikonische Bilder wie jene von Richie Havens. Der Singer-Songwriter eröffnete das Festival und zog seine Improvisation des Songs "Freedom" immer mehr in die Länge, weil alle anderen Musiker noch im Stau steckten.

Auch Santana und Joe Cocker, deren Karrieren erst mit ihren Woodstock-Auftritten in die Gänge kamen, tauchen als Eckpunkte auf. Und natürlich Jimi Hendrix, der als letzter Performer am Montagmorgen vor deutlich ausgedünntem Publikum den Vietnamkrieg in seine Version des "Star Spangled Banner" reinholte.

Zuschauer, Anrainer, Helfer

Im Vordergrund von Goodmans Doku steht das Erleben der Zuschauer, Anrainer, Helfer, Musiker und Organisatoren. Statt ihre heutigen Erinnerungen aber in direkten Interviews beziehungsweise als "talking heads" ins Bild zu rücken, wurden sie zu einem Off-Kommentar verwoben. Ein vielstimmiger Chor, darunter auch Festivalbesucher aus Frankreich und Deutschland, steht in reizvoller Beziehung zu den Bildern von damals, den gut gelaunten Jugendlichen, an deren langen Haaren, Rauchwaren und nackter Haut sich die Fantasien von Freund wie Feind entzündeten.

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Schon bei den Festivalorganisatoren selbst zeigt sich ein erstaunliches Spektrum. Woodstock war ursprünglich keineswegs als Geschenk an friedliebende Hippies geplant, sondern sollte Geld für ein Tonstudio einbringen. Zu Wort kommt nicht nur Michael Lang, der sich später gerne als "Mr. Woodstock" in Szene setzte, sondern auch einer jener beiden Finanzinvestoren aus gutem Haus, die damals ihr Glück an der Wall Street suchten und in einem Musikfestival schlichtweg eine gute Geschäftsidee sahen. Die Verzögerungen bei der Suche nach einem geeigneten Ort stellten das Veranstalterquartett schließlich vor Alternativen, die keine waren: Sollte in der allzu knappen verbleibenden Zeit ein Zaun um das Festivalgelände oder doch lieber eine Bühne errichtet werden?

Von sehr vielem viel zu wenig

Es gab beim Woodstock-Festival, darin sind sich alle in der Dokumentation versammelten Stimmen einig, von sehr vielem viel zu wenig, seien es Toiletten, Nahrungsmittel oder Ärzte. Während aber zeitgenössische Medien wie von einem Kriegsschauplatz berichteten und der Gouverneur mit dem Einsatz der Nationalgarde drohten, erlebten die Menschen vor Ort, auch darüber herrscht Einigkeit, unvermutete Hilfsbereitschaft und Solidarität. Goodmans sehenswerte Dokumentation lässt als komplementäre Ergänzung zum immer noch definitiven "Woodstock"-Film Wadleighs keinen Zweifel daran, dass es neben der Musik und vielen glücklichen Zufällen vor allem die friedliche Bewältigung dieser Herausforderungen war, die Woodstock zum Idealbild von "Love & Peace", zu einer wenn auch kurzen, so doch gelungenen Selbstvergewisserung einer sich formierenden Gegenkultur machte.

Woodstock als Projektionsfläche

Die tödliche Messerstecherei beim Altamont Free Concert mit den Rolling Stones mag den großen Open-Air-Festivals schon wenige Monate später die Unschuld genommen haben. Michael Langs anhaltende Suche nach einem Austragungsort für eine Jubiläumsausgabe von Woodstock mag im Zeitalter durchkommerzialisierter, mit Chiparmbändern gegängelter Festivals wie eine Travestie erscheinen. Wie stark Woodstock in uns nachhallt, und sei es als Projektionsfläche, wird klar, wenn in Goodmans Doku zum Schluss noch einmal die Kamera über den historischen Austragungsort eines Festivals hochschwebt, das gar nicht in Woodstock war. (Karl Gedlicka, 31.7.2019)