Am Ende stehen die Elend und Verwahrlosung: Richard Wagners Oper "Tannhäuser" wird in Bayreuth schonungslos vom Kitsch befreit

Foto: APA/Festspiele Bayreuth/Enrico Nawrath

Katherina Wagner ist schockiert. Soeben wurde die Bayreuth-Chefin telefonisch informiert, dass es skurrile Fremdlinge nicht nur unbemerkt ins Festspielhaus geschafft, sondern sogar bei laufender Aufführung die Bühne gekapert haben. Dann greift die Intendantin selbst zum Hörer und ruft die Polizei, die den Protagonisten, während er noch etwas davon faselt, dass er "nach Rom" möchte, am Ende des zweiten Akts abführt.

Als das Publikum in der Pause vor das Festspielhaus tritt, ist noch jene Leiter zu sehen, über die die seltsamen Eindringlinge den Balkon erklommen hatten. Und es hängt noch das Transparent, das sie dabei anbrachten: "Frei im Wollen, frei im Thun, frei im Genießen. R. W." Das Motto aus Wagners Schrift Die Revolution begleitet den gesamten Eröffnungsabend ebenso wie das anarchistische Grüppchen, das diese Worte überall hinterlässt, wo es eben auch hinkommt.

Ein Wachmann im Weg

Zu Beginn ist während der Tannhäuser-Ouvertüre zu sehen, wie ein klappriger alter Citroën von der Wartburg aus durchs Land tuckert. Übermütig feiern die blondierte Revoluzzerin Venus (Elena Zhidkova) und der als kolossaler Clown ausstaffierte Titelheld von Wagners romantischer Oper (Stephen Gould) sich selbst und die Lust am Leben. Sie werden von Oskar (Manni Laudenbach) begleitet, unschwer als gealterter Protagonist aus Günter Grass’ Blechtrommel zu erkennen, und von der ausufernden Drag-Queen-Kunstfigur Le Gateau Chocolat, die virtuos Hüllen und Kopfbedeckungen wechselt und später beim Run durch das Festspielhaus vor der Künstlergalerie en passant dort dargestellte Posen entwaffnend persifliert.

Die Ausgelassenheit wird eingebremst, als sich dem Benzin und Burger stehlenden Anarcho-Quartett ein Wachmann in den Weg stellt und bei der Flucht auch noch niedergefahren wird. So konkret sieht hier der Sündenfall aus – und ebenso konkret vermittelt Tobias Kratzers Regie ständig zwischen Welt und Kunst: Es ist das Bayreuther Festspielhaus, zu dem Katharina Konradi als junger Hirt mit dem Fahrrad unterwegs ist, während der Pilgerchor als elegante Festspielgemeinde gerade zur Aufführung schreitet. Vor dem Festspielhaus trifft der zurückkehrende Tannhäuser auch seine Sängerkollegen rund um Wolfram (Markus Eiche).

Uninspirierter musikalischer Zugang

Gemeinsam mit ihnen steht er anschließend auf der Bühne einer verstaubten Inszenierung wie aus den 1950ern, die treulich das Innere der Wartburg zu rekonstruieren scheint. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es Valery Gergiev mit einem wundervollen, im Leisen geradezu zauberhaften Orchester zu tun hat und dennoch an uninspiriertere Wagner-Zugänge erinnert. Eine wirklich führende und größere Spannungsbögen ordnende Dirigentenhand, die über adrettes Klangarrangement hinausreicht, sie wird jedenfalls kaum wahrnehmbar.

Gesungen und gespielt wird in größter Feinabstimmung mit dem Geschehen (einige große Operngesten lassen sich mit einem Augenzwinkern ebenfalls ironisch verstehen). Gleichzeitig sieht man per Video das Geschehen hinter der Bühne – also die emotionalen Nöte der Darsteller, die jenen der Dargestellten aufs Haar gleichen. Venus überwältigt und fesselt auf der Toilette eine Choristin, um dann mit ihrem Kostüm bei der Aufführung mitzumischen. Es wirkt extrem komisch, wenn sie so tun muss, als sänge sie das Stück mit, das sie nicht kennt und gleichzeitig das Geschehen während des Sängerkriegs missbilligt.

Heimatlose Pilger

Das alles ist brillant aufeinander abgestimmt. Nur einmal wird aufgrund einer falschen Uhrzeit auf der Videowand erkennbar, dass die Filme vorproduziert sein müssen. Nach solchen Vergnügungen ist anschließend die dramatische Fallhöhe zum dritten Akt eher immens: Einzig Le Gateau Chocolat scheint es gut zu gehen, da er nun auf einem Plakat Werbung macht. Dafür ist er weg, und alle anderen sind irgendwie total am Ende.

In einer trostlosen Gegend inmitten von Schrott, durch die die Pilger nun als Heimatlose irren, steht der selbst inzwischen ganz desaströse Citroën, vor dem Oskar der herumirrenden Elisabeth (Lise Davidsen) aus der zum Kochtopf umfunktionierten Blechtrommel etwas von seinem Essen abgibt, ehe sie sich in ihrer Verzweiflung für ein paar Minuten an Wolfram verschenkt, um sich dann selbst zu töten und von Tannhäuser erst im Schlussbild wie in einer religiösen Szene gehalten zu werden.

Wie so oft gelang hier noch einmal der Spagat zwischen Zitathaftigkeit und Eindringlichkeit, so dass es gut möglich war, bei dieser Inszenierung gleichzeitig Distanz und Berührung zu verspüren. Bis auf einige altvordere heisere Buhrufer, die zum Bayreuther Inventar gehören wie die witzigen kleiner Wagner-Statuen, von denen eine diesmal auch auf der Bühne stand, zeigte sich das Premierenpublikum von alldem begeistert. (Daniel Ender aus Bayreuth, 26.7.2019)