Starregisseur Simon Stone – immer auf der Suche auch nach aktuellen Bezügen: "Diese ,Médée' spielt in einem Land, das aussieht wie Österreich."

Foto: Andy Urban

Simon Stone ist einer der gefragtesten Theaterregisseure seiner Generation, seine gegenwartsnahen "Überschreibungen" von Klassikern – Stichwort: Online-Shopping bei Ibsen, Twittern bei Tschechow – werden von den großen Häusern gerne gebucht. Nach Aribert Reimanns Lear vor zwei Jahren inszeniert der Mittdreißiger bei den Salzburger Festspielen erneut eine Oper, Luigi Cherubinis Médée.

Zum Interview ins Büro der Pressechefin? Stone mag lieber runter in den Toscaninihof, da ist der Aperol Spritz so gut. Der gebürtige Schweizer hat Haare für zwei, erinnert ein bisschen an Nicholas Ofczarek und ist im Gespräch von einer offensiven Strahlkraft und fokussierten Zuwendung. Ob wir uns bitte duzen können? Auch dem zweiten Wunsch des Festspielregisseurs entspricht man natürlich gern.

STANDARD: Simon, du hast dich mit der mythologischen Figur der Medea schon auf der Theaterbühne auseinandergesetzt und dich dabei von einem realen Fall aus den USA inspirieren lassen. Jetzt inszenierst du Cherubinis Oper "Médée" bei den Salzburger Festspielen. Gab es auch hier einen konkreten Fall, an den du dabei gedacht hast?

Stone: Medea wird zuallererst durch Cherubinis Musik charakterisiert. Aber klar: Mit der Entscheidung für ein bestimmtes Bühnenbild, für eine bestimmte Zeit verorte ich die Figur auf eine ganz reale Weise. Ich lasse ja jedes Stück, das ich inszeniere, an jenem Ort stattfinden, an dem es gespielt wird. Diese Médée spielt also in einem Land, das aussieht wie Österreich.

König Kreon ist Teil der Regierung, er hat Einfluss und ist auch der Kopf einer reichen Familie. Medea wiederum kommt aus einem Nicht-EU-Land, Jason ist Inländer. Die gemeinsamen Kinder sind nach der Trennung ihm zugesprochen worden. Das bedeutet für Medea, dass sie tatsächlich ihr Aufenthaltsrecht in diesem Land verliert.

STANDARD: Sie verliert also ihre Rechte und ihre Kinder.

Stone: Sie wird entrechtet, und ihre Verzweiflung steigt dadurch enorm. Die Uhr tickt, sie muss bald weg. Ich sehe in der Situation eine Ähnlichkeit zu Kafkas Der Prozess. Jemand steckt in einem bürokratischen Albtraum fest, aus dem es keinen Ausweg gibt. Niemand würde Medeas Mord an ihren eigenen Kindern verteidigen: Aber die Tragödie passiert, weil eine Gesellschaft einem Menschen die Rechte nimmt.

STANDARD: Ein Grund, warum Cherubinis Oper eher selten gespielt wird, sind die gesprochenen Dialoge in Alexandrinern. Was hast du damit gemacht?

Stone: Die haben wir drastisch gekürzt. Es gibt eigentlich nur noch drei Textstellen: Medea spricht da auf einen Anrufbeantworter und erklärt ihren Zustand, ihre Sicht der Dinge. Das reicht. Der Unterschied an Energie und Spannung zwischen einer Orchestermusik mit Gesang und einer gesprochenen Passage ist sehr groß. Oper wird ja deswegen als die kompletteste und universellste Kunstform empfunden, weil hier im Idealfall alle Künste zu sublimer Magie verschmelzen können. Film beschreibt, wie Dinge ausgesehen haben, Oper vermittelt, wie sie sich angefühlt haben.

STANDARD: Du bist ein gefeierter Theaterregisseur. Wie kam es dazu, dass du mit Korngolds "Die tote Stadt" in Basel erstmals Oper inszeniert hast?

Stone: Oper hat mich immer interessiert. Als ich mit elf eine Woche in Wien war, war ich mehrmals in der Wiener Staatsoper und in der Volksoper. Da habe ich Feuer gefangen. Insofern schließt sich auch ein Kreis, wenn ich in der Direktion von Herrn Bogdan Roscic an der Wiener Staatsoper inszenieren werde. Es war aber gut, dass ich zuerst viel Erfahrung als Theaterregisseur gesammelt habe. Bei der Oper kommen da schwierige Sachen wie der Chor dazu ... Und man muss eine Geschichte erzählen und gleichzeitig auf die Musik achten – da fühlt man sich oft wie auf dem Mittelstreifen einer Autobahn, und links und rechts brettern die Lkws vorbei.

STANDARD: Arbeitest du in deiner Inszenierung auch mit filmischen Mitteln?

Stone: Ja. Weil wir einiges an Dialogen gestrichen haben, erzähle ich damit die Hintergrundgeschichte. Die Filmaufnahmen haben den Sängern übrigens großen Spaß gemacht! Die waren so gut, dass ich mir gedacht habe, dass ich mit ihnen einen richtigen Film hätte drehen können. Sie sind alle komplett drin in ihrer Figur und agieren vor der Kamera völlig angstfrei. Aber eigentlich waren bis jetzt alle Opernsänger, mit denen ich gearbeitet habe, wirklich gute Schauspieler. Ich glaube, es ist ein Klischee, dass Sänger schlechte Schauspieler sind!

STANDARD: Du wohnst mit deiner Frau in Wien und hast euren Wohnort in einem Interview einmal als "melancholische Stadt, eine Art Atlantis" beschrieben. Welchen Eindruck hast du von der Festspielstadt Salzburg?

Stone: Zur Festspielzeit ist Salzburg natürlich toll, da brummt und summt alles. Trotzdem fühle ich mich unglaublich entspannt hier, ähnlich wie in Basel. Aber klar: Ich bin nur für ein paar Wochen hier, dann bin ich wieder weg. Im Winter kann es passieren, dass man in hier eine gewisse Leere empfindet: Die Fassade, die von der großen Zeit der Stadt kündet, ist noch da, aber nur wenig Inhalt.

Als Filmemacher würde ich Salzburg in den dunkleren Tagen wahrscheinlich schätzen. Natürlich ist Salzburg keine Stadt, bei der man sagen kann: Ich bin hier im Mittelpunkt der Welt. Aber man sollte eh selbst der Mittelpunkt der Welt sein.

STANDARD: Du bist ein Wanderer zwischen den Welten, zwischen den Kontinenten: In der Schweiz geboren, bist du in Australien aufgewachsen, jetzt wohnst du in Wien. Gründet dein frischer Blick auf die Klassiker in deinem australischen Erbe?

Stone: Nein. In Australien sind die Zuschauer konservativer als in Europa, hier darf ich viel mehr. Aber für mich sind meine Inszenierungen auch klassisch! Ich will die großen Stücke ja nicht zerstören, im Gegenteil: Ich will sie wiederbeleben. Die Oberfläche ist vielleicht anders, der Zugang ist neu, aber die großen Geschichten bleiben dieselben! Der Zuschauer soll allerdings immer das Gefühl haben, dass das Stück etwas mit ihm und seinem Leben heute zu tun hat.

STANDARD: Du wirst in den Zeitungen immer wieder als der "Theaterregisseur der Generation Netflix" bezeichnet. Was sagst du zu diesem Etikett?

Stone: Vorab: Ich drehe tatsächlich gleich nach meiner Arbeit in Salzburg einen Film für Netflix – Näheres darf ich leider nicht verraten. Diese zitierte Bezeichnung ist leider meistens abwertend gemeint. Als Gutenberg den Buchdruck erfunden hat, hat die gebildete Elite gesagt: Das ist der Untergang, jetzt hat jeder Zugang zu Büchern. Früher waren die tollen Filme einem kleinen, elitären Zirkel vorbehalten, der sie in ausgesuchten Programmkinos sehen konnte. Die Streaming-Plattformen bieten die Gelegenheit, Filme mit der ganzen Welt zu teilen.

In Madagaskar kann jemand jetzt für wenig Geld Filme aus Kasachstan aus den 1960er-Jahren sehen oder aus Afrika oder von Tarkowski. Das ist doch großartig! Was haben Mozart und Shakespeare gemacht? Sie haben Hochkultur und Populäres gleichermaßen beherrscht und in ihre Werke einfließen lassen. Ich werde bis zum Ende meiner Tage für eine Kunst kämpfen, die die Menschen der verschiedensten Gesellschaftsschichten und Länder zusammenbringt. (Stefan Ender, 27.7.2019)