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Premier Boris Johnson hielt es nicht lange auf der Unterhausbank. Er ist bereits wieder auf eine Reise durch das Königreich aufgebrochen.
Foto: REUTERS/Peter Nicholls

Ein normaler Premierminister würde nach der Aufregung der ersten 48 Stunden wohl, nun ja, ein wenig regieren: Gesetzesvorlagen abzeichnen, über Kabinettsausschüsse präsidieren, befreundete Partnerländer besuchen. Aber an Boris Johnson ist nichts normal. Kaum waren Minister und Staatssekretäre ernannt, da ging der 55-Jährige schon im Land auf Werbetour.

Offiziell handeln seine Ansprachen von der Bekämpfung der Kriminalität: Binnen zweier Jahre sollen landesweit 20.000 zusätzliche Polizistinnen und Polizisten Verbrecher jagen. In Wahrheit will Johnson mit Reden in England und Schottland für sich und seinen unbedingten Willen zum Brexit Ende Oktober werben. Womöglich handelt es sich um den Startschuss zu vorgezogenen Neuwahlen. Und wohl agiert er in der Hoffnung, auf diese Weise einige seiner größten Probleme beiseitezuräumen oder leichter zu machen.

  • UNION

"Premierminister und erster Lord des Schatzkanzleramtes" ist Johnson ohnehin, zusätzlich hat er sich selbst den etwas albernen Titel eines Unionsministers verliehen. Im Unterhaus schwärmte er vom "tollen Vierer" ("awesome foursome"), aus dem das Vereinigte Königreich besteht. Doch Schotten und Nordiren stimmten mit 62 und 56 Prozent für den EU-Verbleib und stehen deshalb dem englischen Brexit-Vormann extrem skeptisch gegenüber. In Nordirland entzweit zudem die Grenze zur Republik die Gemüter (siehe Irland und die EU).

Im Norden des Landes hat sich Johnson gleich zwei mächtige Schottinnen zu Feinden gemacht. Die hochpopuläre konservative Regionalchefin Ruth Davidson hält gar nichts von dem chaotischen Brexit ("no deal"), auf den die neue Londoner Regierung zuzusteuern scheint.

Diese Sorge treibt auch die Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der Schottischen Nationalpartei (SNP) um. In einem gemeinsamen Brief mit dem Leiter der Regionalregierung von Wales, Mark Drakeford (Labour), warnte sie nun vor "katastrophalen Folgen für alle Regionen": Allein in Schottland stünden über 100.000 Jobs auf dem Spiel. Sturgeon forderte erneut Londons Einwilligung in ein zweites Unabhängigkeitsvotum, fünf Jahre nach dem 55:45 der Schotten fürs Zusammenbleiben. Sollte der No Deal Wirklichkeit werden und die erwarteten schlimmen Konsequenzen zeitigen, dürfte die Abspaltungsbewegung stärker werden.

  • WIRTSCHAFT

Mächtige Verbündete haben die Regionalregierungen in den Wirtschaftslobbys des Landes: Unisono halten diese einen No Deal für katastrophal. Der Verband der verarbeitenden Industrie Make UK spricht sogar vom "Gipfel ökonomischen Irrsinns".

Die unabhängige staatliche Budgetbehörde OBR warnt vor einer Rezession, selbst vorsichtige Wirtschaftsforscher prognostizieren geringeres Wachstum. Neo-Kabinettsbürominister Michael Gove soll die No-Deal-Vorbereitungen verstärken, unter anderem mit einer PR-Offensive im September. Sogar die Armee bereitet 8500 Soldaten auf den Einsatz vor, um etwaige Unruhen wegen Lebensmittel- oder Medikamentenengpässen zu ersticken.

  • IRLAND UND DIE EU

Die "antidemokratische" Auffanglösung für Nordirland müsse aus dem EU-Austrittsvertrag getilgt werden, hat Johnson gefordert und wieder einmal von technischen Alternativen gesprochen, mit denen die innerirische Grenze durchlässig bleiben könne. Damit beißt er in Dublin und Brüssel aber auf Granit. Das Boulevardblatt Express schrieb begeistert von "Johnson auf Kriegspfad"; selbst der linksliberale Guardian betonte die Zurückweisung durch Brüssel. Gut möglich ohnehin, dass der Konservative genau dies anstrebt: Seht her, könnte die neue Regierung in London dem Volk sagen, die bösen Europäer spielen nicht mit, zum No Deal gibt es keine Alternative.

  • Die Parteifeinde ...

Von einer "wall of opposition" spricht Winston Churchills Enkel Nicholas Soames, einer aus dem kleinen Häuflein der verbliebenen liberalkonservativen Abgeordneten. Der bisherige Finanzminister Philip Hammond könnte bei parlamentarischen Versuchen, den No Deal aufzuhalten, ihr Anführer werden. Freilich bleibt dafür wenig Zeit: Der Sommerpause bis Anfang September folgt vierzehn Tage später eine sitzungsfreie Periode während der jährlichen Parteitage von Liberaldemokraten, Labour und Tories.

  • ... und die echte Opposition

Angesichts des Durcheinanders in der Labour Party ist keineswegs gesichert, dass die Oppositionsfraktionen geeint abstimmen. Doch würde ein gutes Dutzend Tories genügen, um den "Scharlatan mit großem Talent zu Schwindeleien", wie der Abgeordnete Dominic Grieve seinen Parteichef nennt, zu stoppen. Dann hätte Johnson nach der Zurückweisung durch die EU einen zweiten Feind: das Parlament. Neuwahlen wären unausweichlich.

Royales Unverständnis

In Anbetracht solcher Herausforderungen wirkt Queen Elizabeth II ziemlich weise. Sie könne gar nicht verstehen, soll die 93-Jährige dem 14. Premierminister ihrer Amtszeit gesagt haben, "warum irgendjemand den Posten haben will". Dass Johnson die Bemerkung prompt weiterplauderte, verstieß massiv gegen die Sitten: Gespräche zwischen Monarchin und Premier sind eigentlich vertraulich. Einen Johnson schert das nicht. Und genau diese Attitüde, gepaart mit optimistischer Rhetorik über die "goldene Ära" für die Insel, könnte ihm eine Mehrheit verschaffen. Ganz bestimmt muss sich Großbritannien, spätestens im Herbst, warm anziehen. (Sebastian Borger aus London, 27.7.2019)