Nordmazedonien gilt wegen des Kampfes für Rechtsstaatlichkeit und wegen des Namensabkommens mit Griechenland als Hoffnungsland auf dem Balkan.

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STANDARD: Was war das eindrücklichste Erlebnis für Sie in den vergangenen Jahren, als Sie sich hier in Nordmazedonien für Rechtsstaatlichkeit und Demokratisierung eingesetzt haben?

Hahn: Damals, 2015, haben wir über Wochen und Monate oft die halbe Nacht in Skopje und Brüssel mit den mazedonischen Politikern verhandelt, um die politische Krise zu lösen. Es gab stundenlange Diskussionen über hochsensible Themen in abgesicherten Räumen, und dann haben wir, weil es so lange dauerte, Pizza bestellt. Wenn mich jetzt Zoran Zaev besuchen kommt in Brüssel, dann lachen wir beide, wenn wir uns daran erinnern. Damals war er ja noch Oppositionschef, heute ist er Premier. Aber das Eindrücklichste war, als mich hier in Skopje, als ich aus dem Auto ausgestiegen bin, eine wildfremde Frau angesprochen hat. Sie hat gesagt: "Wir zählen auf Sie, dass Sie das Land wieder auf die richtige Spur bringen."

STANDARD: Im Juni haben die EU-Staaten trotz der Empfehlung der EU-Kommission noch immer kein grünes Licht für den Beginn von Beitrittsverhandlungen für Nordmazedonien und Albanien gegeben. Wie wahrscheinlich ist es, dass die EU-Staaten im Oktober zustimmen, und wie wahrscheinlich ist es, dass nur Nordmazedonien verhandeln darf?

Hahn: Wir arbeiten noch immer darauf hin, dass beide Staaten zu verhandeln beginnen können. Aber es ist kein besonderes Geheimnis, dass die Stimmung unter den Mitgliedsstaaten für Nordmazedonien gegenwärtig einfach besser ist. Beide Länder haben die Kriterien, welche die EU-Mitgliedsstaaten als Bedingung verlangt haben, erfüllt. Deshalb haben wir auch eine Empfehlung für beide Länder abgegeben. Aber Nordmazedonien hat außer den geforderten Reformen auch noch die historische Prespa-Vereinbarung zuwege gebracht und auch den Freundschaftsvertrag mit Bulgarien. Bei Albanien stehen jetzt leider Probleme im Vordergrund, etwa dass die Opposition nicht im Parlament ist, dass die Regierung Schwierigkeiten dabei hat, einen Dialog zu führen, und dass es ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten gibt. Die EU-Mitgliedsstaaten beurteilen natürlich auch die politische Gesamtsituation im Land.

STANDARD: Andererseits hat die albanische Regierung eine umfassende Justizreform gemacht.

Hahn: Ja, das war eines der Kriterien. Und hier hat Albanien gute Fortschritte erzielt. Den Albanern jetzt vorzuwerfen, dass etwa der Verfassungsgerichtshof nicht funktioniert, ist unfair, denn das zeigt ja nur, wie erfolgreich die Arbeit der eingerichteten Kommission ist, die die korrupten Staatsanwälte und Richter aus dem System nimmt.

STANDARD: Wie wahrscheinlich ist es, dass auch Albanien grünes Licht bekommt? Fifty-fifty?

Hahn: Ich kann es nicht sagen, da ist so viel Dynamik drin. Meine Hoffnung ist, dass alle politischen Kräfte in Albanien den Ernst der Lage erkennen und verstehen, was sie mit ihrem Verhalten anrichten. Denn die Bevölkerung will zu 80 Prozent den Beginn der Beitrittsverhandlungen, Wähler aller Parteien unterstützen das.

STANDARD: Das ist eines der Probleme auf dem Balkan, dass es den Parteien oft völlig egal ist, was die Bürger wollen.

Hahn: Hier in Nordmazedonien hat die Regierung vorbildlich gehandelt und sich bemüht, die Opposition einzubinden. Ich hatte ein Treffen mit dem Oppositionsführer und habe an ihn bei diesem Treffen appelliert, weiterhin eine konstruktive Haltung an den Tag zu legen.

STANDARD: Was macht Nordmazedonien zum Modellland?

Hahn: Sie waren imstande, einen jahrzehntealten politischen Konflikt beizulegen. Und da gehört großer politischer Mut dazu, denn diese Entscheidung war ja mit hohem persönlichem und politischem Risiko verbunden. Das gilt natürlich auch für die griechische Seite, aber ganz besonders für Nordmazedonien, wo die Opposition Stimmung gegen das Abkommen gemacht hat. Am Anfang haben nur 20 Prozent der Bevölkerung die Prespa-Vereinbarung unterstützt, und dass es jetzt auch tatsächlich umgesetzt wurde, zeigt die Führungsstärke der Regierung. Das muss auch entsprechend anerkannt und belohnt werden. Es hatte auch eine Impulswirkung für die Region. Als wir vor einem Jahr das Prespa-Abkommen unterschrieben haben, gab es eine Dynamik, auch ein Abkommen zwischen Serbien und dem Kosovo zustande zu bringen. Diese positive Entwicklung ist leider durch die Einführung der Hundert-Prozent-Zölle auf serbische Waren durch den Kosovo gestoppt worden. Die Lösung des Serbien-Kosovo-Konflikts ist zentral für die Entwicklung der gesamten Region.

STANDARD: Sehen Sie politischen Willen für den Abschluss eines Abkommens zwischen Serbien und dem Kosovo?

Hahn: Ich sehe ihn auf jeden Fall in Serbien, aber auch im Kosovo, und hoffe, dass nach den wahrscheinlichen Neuwahlen im Herbst im Kosovo die Bedingungen für einen Fortschritt geschaffen werden. Die Lösung dieses Konflikts ist eine Priorität der internationalen Gemeinschaft.

STANDARD: Nordmazedonien hat als ersten Schritt die aggressive nationalistische Rhetorik gegenüber den Nachbarn eingestellt. Das hat Vertrauen geschaffen, um ein Abkommen zustande zu bringen. Abkehr von Hasssprache und Nationalismus ist aber – abgesehen von Nordmazedonien – in der Region nicht zu bemerken. Ist das aber nicht die Voraussetzung für die Lösung aller Konflikte?

Hahn: Ja, und deshalb ist es so wichtig, dass Nordmazedonien für all diese Anstrengungen belohnt wird. Denn die anderen Regierungen in der Region wissen ja ganz genau, dass der Weg Nordmazedoniens richtig ist. In vielen Gesprächen bestätigen sie mir das – nur das Verhalten ist dann ein anderes. Insofern sind die Politiker in Nordmazedonien ein richtungsweisendes Beispiel. Wenn Nordmazedonien also im Oktober das grüne Licht für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen erhält, wovon ich ausgehe, dann hoffe ich, dass sich dies positiv auf die gesamte Region auswirkt.

STANDARD: Frankreich und die Niederlande waren gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen, weil sie überhaupt gegen Erweiterung sind. Verhindert haben den Beginn von Verhandlungen jetzt aber ein paar CDU-Abgeordnete in Deutschland. Welches Signal senden diese EU-Staaten in die Region? Bisher hat man ja zu den Balkanstaaten gesagt: Wenn ihr etwas leistet, werdet ihr belohnt.

Hahn: Ich bin jetzt schon wieder ein bisschen zuversichtlicher. Denn meine Argumentation gegenüber Präsident Emmanuel Macron scheint Früchte getragen zu haben. Bisher hat er gesagt, dass vor der Erweiterung der Integrationsprozess der EU abgeschlossen sein muss. Kürzlich, bei seinem Besuch in Serbien, hat er aber das erste Mal gesagt, dass der Erweiterungsprozess in Parallelität erfolgen kann. Ich hatte einige Gespräche mit der neuen französischen Europaministerin, und diese scheint ihn überzeugt zu haben. Das ist schon ein sehr wichtiges Signal. Die Rhetorik – und hoffentlich auch die Haltung – hat sich in Frankreich geändert.

STANDARD: Auch Österreich blockierte, was den Balkan betrifft. So war das Innenministerium gegen die Visaliberalisierung, obwohl der Kosovo alle Bedingungen erfüllte. Gibt es jetzt eine Chance mit der neuen Regierung ohne Herbert Kickl?

Hahn: Bei Österreich weiß ich jetzt nicht, wie der letzte Stand in Bezug auf die Visaliberalisierung des Kosovo ist. Ich kann nur hervorheben, dass die österreichische Regierung grundsätzlich einer der größten Unterstützer der europäischen Perspektive des Westbalkans ist. Deutschland hat seine Haltung in Bezug auf den Kosovo bereits geändert, der deutsche Innenminister Horst Seehofer ist sehr für die Visaliberalisierung des Landes. Denn die Prozedur, die Deutschland jetzt gegenüber den Kosovaren machen muss, ist viel aufwendiger und kostspieliger als die Visafreiheit.

STANDARD: Offensichtlich nehmen manche EU-Staaten aber die Empfehlungen der Kommission nicht mehr ernst. Beobachten Sie das mit Sorge?

Hahn: Es ist eine Frage unserer Glaubwürdigkeit, dass man das, was man mit einem Partner vereinbart, auch einhält. Im Fall des Kosovo gab es 94 Bedingungen, und diese wurden einstimmig von den EU-Mitgliedsstaaten beschlossen. Die Bedingungen hat ja nicht die Kommission erfunden. Mein Grundsatz lautet daher: Wenn unsere Kandidaten- und auch Partnerländer liefern, muss auch die EU liefern.

STANDARD: Aber dann halten sich die Mitgliedsstaaten nicht an die Vereinbarungen.

Hahn: Ja, so ist es. Und das ist ein grundsätzliches Problem. Manche glauben offensichtlich zu dem Zeitpunkt, wo etwas vereinbart wird: Das tritt eh nicht ein. Man muss schon auch sagen: Die Kosovaren haben zunächst zweieinhalb Jahre gezögert, die Bedingungen zu erfüllen. Jetzt, wo sie sie erfüllt haben, sind sie ungeduldig – bis zu einem gewissen Grad mit Recht. Aber da hatte sich schon eine negative Stimmung im Rat aufgebaut. Und grundsätzlich hat sich als Folge der verschärften Migrationspolitik in der Frage der Visaliberalisierung eine härtere Haltung entwickelt, die in dem Ausmaß nicht vorhanden war, als wir diese Prozesse begonnen haben. Wir haben mit Hängen und Würgen die Visaliberalisierung für die Ukraine und Georgien zustande gebracht. Das haben mittlerweile schon zwei Millionen Ukrainer genützt. Und das ist gut so, denn es fördert den Abbau von Vorurteilen und Klischees auf beiden Seiten.

STANDARD: Aus dem Kosovo würden ja viel weniger Leute die Visaliberalisierung in Anspruch nehmen als aus der Ukraine. Das Land hat ja nicht einmal zwei Millionen Einwohner.

Hahn: Ich teile diese Haltung der Mitgliedsstaaten auch nicht, aber die Stimmung hat sich durch die Migrationswellen geändert.

STANDARD: In Südosteuropa gibt es nur ganz wenig politischen Willen der Regierungen, Reformen umzusetzen — abgesehen von Nordmazedonien und auch Albanien. Was kann die EU hier überhaupt machen, wenn der politische Wille fehlt?

Hahn: Salopp gesagt: Ein bisschen was muss ich ja meinem eventuellen Nachfolger überlassen. (lacht) In der Ukraine habe ich gesehen, dass das Thema Visaliberalisierung eine derartige Wirkung in der Bevölkerung hatte, dass selbst die oligarchengesteuerten Repräsentanten im Parlament unsere Bedingungen akzeptieren mussten. Es ging in der Ukraine um die elektronische Vermögenserklärung. Auch auf dem Balkan müssen wir Land für Land Ziele und Themen finden, die von der Bevölkerung eingefordert werden, und damit die Politik unter Druck setzen. Man muss die Dinge über die Bande spielen, es ist gewissermaßen politisches Karambol-Billard. Ich will nun auf die grüne Agenda setzen, nicht zuletzt wegen einiger Besuche in Bosnien-Herzegowina, etwa in Tuzla, wo es das Braunkohlekraftwerk gibt. Ich will, dass Bewusstsein darüber entsteht, was hier angerichtet wird, welche Effekte dies auf die Gesundheit und zukünftige Generationen hat. Denn ich hoffe, dass dadurch ein Druck entsteht, der es ermöglicht, auch andere Reformvorhaben voranzubringen.

STANDARD: Viele Südosteuropäer wissen gar nicht, was die EU überhaupt tun kann und dass ihre Regierungen wegen ihrer Reformunwilligkeit die Schuld für die Misere tragen. Braucht es klarere Worte seitens der EU?

Hahn: Wenn ich mich mit Leuten aus der Zivilgesellschaft in Bosnien-Herzegowina treffe, fordere ich sie auf, sich politisch zu engagieren, und sie sagen dann: "Das wollen wir nicht, das ist etwas Schmutziges." Die Vertreter der Zivilgesellschaft wollen, dass wir als EU-Kommission das fehlende Bindeglied zur bosnischen Politik sind. Und ich sage ihnen: Liebe Freunde, ihr müsst euch schon selbst einbringen! Entweder ihr gründet eure eigene Partei, oder ihr engagiert euch für eine bestehende Partei. Aber nur daneben zu stehen und die Situation zu beklagen reicht nicht. Es gibt eine Mischung aus Autoritätsdenken und Frustration. Ich hoffe jedoch, dass die Themen Umwelt und Gesundheit gerade junge Leute in der Region ansprechen. Die EU kann gute Initiativen und Reformen unterstützen, und das tun wir ja auch, aber die fundamentale Änderung muss von den Menschen im Land ausgehen.

STANDARD: Sie haben vorhin gerade gesagt, dass es Themen gibt, die Sie Ihrem eventuellen Nachfolger hinterlassen wollen. Sie haben aber auch mehrmals erklärt, dass Sie eigentlich die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik weitermachen wollen. Gibt es Signale von Frau von der Leyen, dass es möglich ist, dass Sie hier auf dem Balkan weiter aktiv sind?

Hahn: Ich hatte schon ein Gespräch mit Frau von der Leyen. Aber über die Ressortvergabe wurde noch gar nicht geredet. In der Juncker-Kommission wurden die Ressorts rotiert. Das kann sich ändern, aber es liegt ausschließlich bei der Präsidentin, das zu entscheiden.

STANDARD: Warum wollen Sie dieses Ressort denn weitermachen?

Hahn: Ich habe gesagt, ich möchte im außenpolitischen Bereich bleiben, weil ich mittlerweile eine Expertise habe, die zwangsläufig kaum jemand auf der europäischen Ebene hat. Es ist ja sonst keiner so lange hier auf dem Balkan gewesen. Ich habe den Westbalkan zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit gemacht, gerade weil diese Region für die EU von großem strategischem Interesse ist. Und gerade am Westbalkan ist nicht nur die Expertise wichtig, sondern auch Werte wie Erfahrung, Netzwerke und Akzeptanz, um Dinge voranzubringen.

STANDARD: In der Erweiterungsstrategie stand der Begriff "state capture". Die Interessen der Parteien sind in den Staaten auf dem Westbalkan fest verankert. Wie kann man das aufbrechen?

Hahn: Das Beispiel Nordmazedoniens zeigt, dass diese "state capture" überwunden werden kann, weil die regierende Partei bewusst einen inklusiven Ansatz wählt und auch Maßnahmen getroffen hat, Staats- und Parteiinteressen zu trennen. Wir beginnen die Beitrittsverhandlungen mit jedem Land mit den Kapiteln 23 und 24 zu Justiz und Sicherheit und schließen sie auch damit ab. Das heißt, es wird keinen Beitritt geben, solange nicht die in diesen Kapiteln festgelegten Kriterien wie Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit, Grundrechte und unabhängige Justiz erfüllt sind.

STANDARD: Nun ist sogar hier in Nordmazedonien die Chefin der Sonderstaatsanwaltschaft zurückgetreten, weil sie unter Korruptionsverdacht steht. Sind Sie enttäuscht von der Sonderstaatsanwaltschaft?

Hahn: Grundsätzlich nehme ich zu keinem laufenden Verfahren Stellung. Die Untersuchungen sind natürlich in aller Unabhängigkeit und umfassend zu führen. Die Tatsache, dass sofort reagiert und Untersuchungen eingeleitet wurden, ist ein Zeichen, dass die Justiz funktioniert. Der von der Regierung vorgelegte Ansatz, die Sonderstaatsanwaltschaft als eigene, unabhängige Abteilung in die reguläre Staatsanwaltschaft zu integrieren, scheint mir ein guter Ansatz, und ich hoffe, dass das Gesetz möglichst bald angenommen wird. (Adelheid Wölfl aus Skopje, 29.7.2019)