Alle 997 Jahre soll in Naomi Kawases Zauberwald ein Pilz wachsen, der den Menschen von Schmerzen und allen Schwächen befreit.

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Zum Wald unterhalten die Filme von Naomi Kawase ein zugewandtes, wenn nicht sogar ganzheitliches Verhältnis. Er ist einerseits eine existenzielle Grundlage – die abgelegenen Dörfer, in denen ihre Erzählungen spielen, leben von der Holzwirtschaft -, andererseits ein durch und durch beseelter Raum, in dem Mensch und Natur, Leben und Tod zusammentreffen.

Der Wald der Trauer (2011) heißt einer von Kawases Filmen, die von jeher an den Rändern des modernen Japans, meist in der Präfektur Nara (dem Heimatort der Regisseurin), angesiedelt sind. Dort, wo allein Tunnel und Eisenbahnentrassen vom Einbruch der Zivilisation künden.

In Die Blüte des Einklangs wird der Wald von allen nur erdenklichen Perspektiven in den Blick genommen: Mal fliegt die Kamera von oben über die Wälder der Yoshino-Berge, mal schaut sie vom Boden auf riesenhohe Bäume, die sich im Wind wiegen und durch deren Kronen helles Sonnenlicht flutet. Es gibt frontale Blicke auf die nahezu geometrische Anordnung der Stämme, Details von Ästen und Blattwerk, Wolkenbewegungen zwischen Wipfeln, plätschernde Waldbäche. Als im Film der erste Baum gefällt wird, ist es, als stürze ein Körper nach einem tödlichen Schuss zu Boden.

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In diese visuell ausgiebig erkundete Seelenlandschaft schickt Kawase erstmals eine Europäerin bzw. einen europäischen Star. Juliette Binoche spielt Jeanne, eine französische Reisereporterin, deren Verlusterfahrung der Film etwas zu demonstrativ zur Schau stellt – noch im Zug sitzend läuft ihr eine erste Träne über die Wange. Jeanne hofft in den Wäldern, die für ihre lange Tradition des Heilkräutersammelns bekannt sind, eine Pflanze namens Vision ausfindig zu machen.

Vision – so auch der schnörkellose Originaltitel des Films – verspricht, die Menschen vor Schmerzen und Schwächen zu befreien, und ist genau genommen ein Pilz. Im Zyklus von 997 Jahren – eine Primzahl – soll er seine Sporen freisetzen. Und tatsächlich scheint das außergewöhnliche Ereignis unmittelbar bevorzustehen. Denn wie die alte und angeblich tausendjährige Aki (Mari Natskuki) und der Berghüter Tomo (Masatoshi Nagase) längst wahrgenommen haben, ist der Wald in tiefe Unruhe geraten.

Spirituelle Erweckungserlebnisse

"Die Art, wie der Wind bläst, wie die Bäume schwanken, das Gleichgewicht von Regen und Licht. Nichts davon fühlt sich mehr richtig an", meint Tomo, der sich vor zwanzig Jahren von der Welt tief erschöpft in den Wald zurückgezogen hat. Die empfindsame Vision-Sucherin quartiert sich bei dem schweigsamen Mann ein und reißt ihn aus seinem Eremitendasein. Je näher die Wiedergeburt der verheißungsvollen Pflanze rückt, desto näher kommen sich nicht nur die beiden vom Leben verwundeten Menschen.

Auch Gegenwart und Vergangenheit, Geburt und Tod, Wirklichkeit und Vision bewegen sich unaufhaltsam aufeinander zu. Die sexuelle Begegnung von Tomo und Jeanne ist dabei nur eine von vielen (über)sinnlich-spirituellen Erweckungserlebnissen, die Kawase mit allen Zutaten des Sakralen – gleißendes Licht, gedämpfte Ekstase – zelebriert.

Kitsch und Kalendersprüche

Die Präsenz der stets wissend lächelnden Binoche tut Kawases meditativem Kosmos, dessen Sensitivität sich ohnehin leicht angreifbar macht, nicht unbedingt gut. Wenn die naturimpressionistischen Bilder dann auch noch mit Jeannes phrasenhaften Weisheiten betextet werden, gerät Die Blüte des Einklangs endgültig in die Nähe des esoterischen Kitsches.

"Liebe ist wie die Wellen. Sie endet nie" – so ein Kalenderspruch. Die fragmenthafte, brüchige Qualität, die Kawases Filme gewöhnlich auszeichnet, weicht in Die Blüte des Einklangs einer falschen Versöhnung. Alles wird "irgendwie" mit allem symbiotisiert. "Welche Schönheit!", wispert da Jeanne. (Esther Buss, 30.7.2019)