Vor einigen Wochen kursierte in den sozialen Medien ein Video über einen Auftritt von Sebastian Kurz in einem Seniorenheim. Der Altkanzler steht vor einem Tisch, an dem ältere Menschen sitzen, rundherum sind Kameras und Mikros auf ihn gerichtet. Man hört Auslöser klicken. Kurz lächelt sein Kurz-Lächeln und fragt in die Runde: "Und? Habts schon mittaggegessen?" Als Antwort kommt ein schlichtes Ja – und nichts mehr. Kurz steht da und wartet, sagt zweimal "Ja? Ja?". Dreht sich um und geht.

Altkanzler Sebastian Kurz beim Besuch im Seniorenheim.
Avstrera

Die "Carcetti-Kurz-Pause"

Ähnliches trug sich in der vierten Staffel von The Wire zu. Stadtrat Tommy Carcetti, demokratischer Kandidat für das Amt des Bürgermeisters von Baltimore, hält im Altenheim vor halbleerem Saal eine Rede. Er spricht von Verbesserungen, mehr Sicherheit, bla, bla, bla. Am Ende lädt er zu Fragen ein. Tatsächlich hebt eine Seniorin die Hand: "Kriegen wir heute Mittag Steak oder Tacos?" Carcetti lächelt sein Carcetti-Lächeln, nickt – und tritt ab.

Tommy Carcetti ging es in der vierten Staffel von "The Wire" ganz ähnlich wie Kurz.
Foto: HBO

Die Szene ist deshalb so einprägsam, weil sie die entwürdigende Natur des Wahlkampfs genau beschreibt. Ein Moment betretenen Schweigens – nennen wir es die "Carcetti-Kurz-Pause", und man weiß: Hier trennen Welten.

Problemzonen der Stadt, unerreicht

Vor inzwischen mehr als sieben Jahren ging die erste Folge von The Wire auf Sendung. Die HBO-Serie um Leben und Sterben in der Stadt Baltimore gilt bis heute als Mutter des neueren seriellen Erzählens. Mit der Genauigkeit eines Chronikjournalisten dokumentierte der Reporter David Simon die Problemzonen der Stadt. Bis heute ist dieses fiktionale Protokoll US-amerikanischer Urbanität in seiner Vielfalt und Wahrhaftigkeit unerreicht.

"The Wire" prägte den Stil von Serien: mit Dominic West (Mitte) und um ihn herum Idris Elba (li.), Wendell Pierce (re.), Sonja Sohn.
Foto: HBO

Dass sich der Einsatz des Wahlkämpfers Carcetti trotzdem auszahlt, zeigt sich in der Folge. Carcetti gewinnt, als Bürgermeister kann er die Versprechen nicht umsetzen, am Ende wird er – wie seine Vorgänger auch – windige Deals eingehen und Statistiken manipulieren.

Man kann sich die Serie immer wieder anschauen und wird jedes Mal Neues entdecken. Auch deshalb, weil es Baltimore zur zeit gar nicht gutgeht. Die Stadt gehört zu den gefährlichsten in den USA.

Laut Statistik der Baltimore Sun sind allein im Juli dieses Jahres mehr als 30 Morde passiert. Seit Jahresbeginn wurden im Großraum Baltimore schon 191 Menschen getötet, womit die Chancen "gut" stehen, die Zahl des Vorjahrs mit 309 Morden zu überholen. Die überwiegende Mehrheit starb durch Kopfschüsse.

Wie schwer es schwarze Jugendliche in Baltimore hatten, zeigte "The Wire" sehr realitätsnah.
Foto: HBO

Wie in der Serie ist der Westteil der Stadt völlig in der Hand brutaler Drogenkartelle. Die Verwaltung wirkt machtlos, rassistische Vorfälle erhärten die Fronten zusätzlich. Einer davon passierte 2015, als ein junger Schwarzer nach Polizeigewalt starb. Die Polizisten wurden dafür nie zur Verantwortung gezogen.

Nichts hat sich geändert

Bürgermeister ist heute Jack Young, er ist schwarz und wie Tommy Carcetti Demokrat. Young ist seit heuer im Amt, weil seine Vorgängerin Catherine Pugh wegen einer Korruptionsaffäre zurücktreten musste. Ein Autor von The Wire sagte, man könne die Serie heute genauso wieder machen. Es habe sich nichts geändert.

Seit einigen Tagen ist Baltimore wieder in den Schlagzeilen. Schuld daran ist US-Präsident Donald Trump, der den schwarzen Abgeordneten der Demokraten und mächtigen Vorsitzenden des Kontrollausschusses im Repräsentantenhaus, Elijah Cummings, per Twitter als "brutalen Rüpel" bezeichnete. Die Zustände in Cummings' Wahlbezirk Baltimore bezeichnete Trump als "widerliches, von Ratten und Nagetieren befallenes Chaos".

Donald Trumps beleidigender Tweet.

Der Tweet kocht im Moment hoch und sorgt für emotionale Reaktionen: Die Baltimore Sun antwortete mit einem Leitartikel, der den Titel trug: "Besser ein paar Ratten in der Nachbarschaft, als eine zu sein". Der CNN-Moderator Victor Blackwell kämpfte vor laufender Kamera mit den Tränen, als er Trumps Aussage analysiert: Trump habe mit seinen Tweets schon tausende Menschen beleidigt, sagte Blackwell. Aber wenn er das Wort "Befall" gebrauche, das normalerweise für Insekten benutzt werde, gehe es immer um schwarze und braune Menschen. Er, Blackwell, stamme aus Baltimore, viele Menschen lebten gern dort. Es gebe zweifellos Probleme, sagt Blackwell, aber die Leute seien "stolz auf ihre Community".

CNN-Moderator Victor Blackwell reagiert emotional auf Trumps Tweet.
CNN

Gegen Beschimpfungen auf Twitter muss sich seit Tagen auch David Simon selbst zur Wehr setzen. Die Angreifer beschuldigen den The Wire-Macher, er habe zum schlechten Image der Stadt wesentlich beigetragen. Simon erwidert mit Verve und unter Verwendung von saftigen Kraftausdrücken, mit denen auch The Wire stets verlässlich dienen konnte.

David Simon twittert Klartext.

(Doris Priesching, 30.7.2019)