Der Wiener Wirtschaftsforscher Richard Grieveson erklärt, warum der neue britische Premierminister ein Hochrisikounternehmen für die Insel ist.

Das Risiko eines No-Deal-Brexits und die Wahrscheinlichkeit einer Parlamentswahl in Großbritannien sind gestiegen. Das Vereinigte Königreich könnte weiterhin am Anfang einer mehrjährigen politischen Krise stehen.

Wie bereits erwartet, wurde Boris Johnson von den Parteimitgliedern zum neuen Vorsitzenden der britischen Konservativen Partei gewählt und wird damit auch britischer Premierminister. Mr. Johnson hat durchaus einige Qualitäten. Doch jenen zufolge, die jahrelang mit ihm zusammengearbeitet haben, wird seine Ernennung für Großbritannien ein großes Vabanquespiel darstellen. Er ist ein Täuscher, unaufmerksam fürs Detail, tendiert zu Ausrutschern, die schwerwiegende Folgen haben können, und ist oft grundlegend unseriös. Angesichts des drohenden Austritts des Vereinigten Königreichs am 31. Oktober aus der EU könnte der Spieleinsatz kaum höher sein.

Warum haben sie ihn gewählt?

Die Konservative Partei hat Mr. Johnson gewählt, weil sie glaubt, sich in einer existenziellen Krise zu befinden. Unter dem Druck von Nigel Farages Brexit Party hat sie jenen Mann erwählt, den sie für ihren eigenen Populisten hält. Johnsons draufgängerische Art im Brexit-Debakel und seine angekündigte Bereitschaft, einen No-Deal-Brexit in Kauf zu nehmen, wenn die EU nicht die gewünschten Zugeständnisse macht, machen ihn unter konservativen Mitgliedern sehr beliebt.

In der Vergangenheit wurde Mr. Johnson auch als "Heineken-Kandidat" bezeichnet, als jemand, der in Gebiete des Vereinigten Königreichs vorzudringen vermochte, die andere Konservative nicht erreicht haben. Er gewann zwei Bürgermeisterwahlen in London, einer Stadt, die traditionellerweise der Labour Party zufiel. Sein jetziger Aufstieg an die Macht ist in vielerlei Hinsicht bezeichnend: Drei Jahre nach der Brexit-Abstimmung hat der Mann, der vielleicht sogar die entscheidende Rolle für ihren Ausgang gespielt hatte, nun die Chance, das zu beenden, was er begonnen hat.

Die Risiken eines No-Deal-Brexits sind hoch

Seitens der Konservativen Partei ist dies ein Verzweiflungsakt und birgt daher enorme Risiken. Die Wahrscheinlichkeit, dass die EU ernsthafte Zugeständnisse macht, wie sie Mr. Johnson wünscht, ist sehr gering.

Die EU könnte am Brexit-Abkommen einige kosmetische Änderungen vornehmen, sodass sie Mr. Johnson der britischen Bevölkerung geschickt als Zugeständnisse verkaufen könnte. Unter diesen Umständen könnte das britische Parlament dem Austrittsabkommen zustimmen (was die frühere Premierministerin Theresa May dreimal versuchte und dabei scheiterte).

Allerdings basiert dieses Szenario auf sehr vielen Unbekannten, und dessen Eintrittswahrscheinlichkeit wird von Tag zu Tag geringer. Es könnte auch schon zu spät sein, und das Vereinigte Königreich wird die EU am 31. Oktober verlassen. Sofern Mr. Johnson nicht deutlich zurücksteckt (was nicht unmöglich ist), wird es zu einem No-Deal-Szenario kommen.

Dies hätte für einen Großteil Europas schwerwiegende wirtschaftliche Folgen. Trotz unterschiedlicher Versuche, diese quantitativ zu erfassen, ist die Komplexität der Folgewirkungen zu groß, als dass sich verlässliche Schlussfolgerungen ziehen lassen würden. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen negativ sein werden, höchstwahrscheinlich sehr stark negativ, insbesondere für das Vereinigte Königreich und Irland. Die engen Handelsbeziehungen Großbritanniens zu Deutschland führen auch dazu, dass die wirtschaftlichen Folgeeffekte weite Kreise ziehen werden, auch in Osteuropa. Es ist davon auszugehen, dass sich die nunmehr jahrelange Unsicherheit des Brexits bereits auf Deutschland ausgewirkt hat.

Neuwahlen werden immer wahrscheinlicher

Mr. Johnson wird voraussichtlich mit einer knappen Parlamentsmehrheit britischer Premierminister werden, was seinen Handlungsspielraum deutlich einschränken wird. Er wird einigen ehemaligen Anti-Brexit-Kollegen leitende Positionen anbieten müssen, was ihn zu mehr Vorsicht bei der Verfolgung seines No-Deal-Kurses veranlassen könnte. Nichtsdestotrotz sind sich auch diese Kollegen der potenziell existenziellen Bedrohung bewusst, der die Konservative Partei – insbesondere auch durch den Herausforderer Mr. Farage – gegenübersteht. Nur sehr wenige fühlen sich bei dem Gedanken an Neuwahlen vor der Brexit-Entscheidung wohl.

Die Frage ist somit, welche Rolle das britische Parlament spielen kann. Frühere Abstimmungen deuten auf eine recht große Mehrheit gegen einen No-Deal-Brexit hin. Vor kurzem hat das Parlament Maßnahmen ergriffen, um Mr. Johnson daran zu hindern, es bei der Verfolgung seines No-Deal-Kurses auszubremsen. Sollte es zu einer No-Deal-Abstimmung kommen, dürfte diese sehr knapp ausfallen. Einige Konservative kündigten bereits an, in diesem Fall gegen den Regierungskurs zu stimmen. Andererseits dürften jedoch auch einige Nichtkonservative mit der Regierung stimmen. Dazu gehören zumindest einige, dem Brexit zugeneigte Labour-Abgeordnete und einige praktisch unabhängige Abgeordnete, die zuvor aus der Labour und Konservativen Partei ausgetreten sind und ihr Mandat bei Neuwahlen wahrscheinlich verlieren würden.

Johnsons draufgängerische Art im Brexit-Debakel macht ihn unter konservativen Mitgliedern sehr beliebt.

Sollte die Regierung ein Misstrauensvotum verlieren und eine Neuwahl angesetzt werden, so wird viel von der EU abhängen. In diesem Fall könnte die EU durchaus eine weitere Verlängerung gewähren. Bislang war der französische Präsident Emmanuel Macron in seiner Bereitschaft, ein No-Deal-Szenario zu akzeptieren, isoliert. Man kann jedoch nicht davon ausgehen, dass dies ewig so seien wird.

Sollte die EU eine weitere Verlängerung gewähren, wird Mr. Johnson weiterhin für seinen No-Deal-Kurs werben. Er wird behaupten, er hätte versucht, der EU einen akzeptablen Deal abzuringen – und sei dabei gescheitert, sodass ein No-Deal-Szenario nun die einzige Option sei.

Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Politik bei Parlamentswahlen eine Mehrheit der Stimmen erzielen könnte. Um sich eine Mehrheit der Sitze im Parlament zu sichern, bräuchte Mr. Johnson eine solche jedoch gar nicht. Bei der letzten Wahl im Jahr 2017 gelang es der Labour-Partei, den größten Teil der Remain-Stimmen zu gewinnen, was die Konservativen daran hinderte, eine absolute Mehrheit zu bekommen (sie wurden dabei von der Democratic Union Party, DUP, unterstützt). Diesmal ist es fraglich, ob die Labour-Partei in der Lage wäre, diese Glanzleistung zu wiederholen, auch angesichts der mangelnden Bereitschaft ihres Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, eine klare Remain-Position einzunehmen. Infolgedessen könnten die Remain-Stimmen auf eine Reihe von Parteien aufgesplittet werden, was den Weg für eine konservative Mehrheit ebnen könnte.

Die politische Krise Großbritanniens könnte erst am Anfang stehen

Im Kern des Brexit-Desasters liegt die mangelnde Einsicht zahlreicher Konservativer, darunter auch Mr. Johnson, der eingeschränkten Möglichkeiten des Vereinigten Königreichs in der EU. In ihrer Welt ist der Brexit wichtiger als die Aufrechterhaltung des Vereinigten Königreiches selbst. Großbritannien könnte ihrer Ansicht nach zu einer Art neuem Singapur werden, das über niedrige Steuersätze große Investitionen anzieht und Handelsabkommen mit der ganzen Welt abschließt. Das Bewusstsein für die harten Details der Handelsabkommen, wie sie nun funktionieren, und das Verständnis dafür, wie ein Land wie das Vereinigte Königreich bei Verhandlungen mit Supermächten wie den USA und China allein zurechtkommen könnte, scheinen bei Herrn Johnson und seinen Verbündeten gänzlich zu fehlen.

Dahinter liegt jedoch ein grundlegenderes Problem. Das Vereinigte Königreich durchlebt seit nun über drei Jahren eine ernste politische Volatilität, viel stärker, als es in den letzten Jahrzehnten gewohnt war. Nicht unwahrscheinlich könnte das, was wir bisher gesehen haben, nur der Beginn einer viel grundlegenderen politischen Krise sein, die zumindest ein Jahrzehnt dauern und einen viel grundlegenderen Wandel im Land bewirken könnte. Die Frustration ist auf beiden Seiten des Brexit-Grabens groß, und ob das Vereinigte Königreich schließlich die EU verlässt oder nicht, wird diese Bruchlinie bestehen bleiben. Das Zweiparteiensystem, das sogar durch das Mehrheitswahlrecht gestärkt wird, scheint gefährdet zu sein. Im Laufe der Zeit ist ein Wechsel zum Verhältniswahlrecht möglich.

Ein Schlüsselaspekt des knirschenden britischen Systems ist auch das Vereinigte Königreich selbst. Boris Johnson ist aus Sicht Schottlands pures Gift. Sollten die Konservativen bei den nächsten Wahlen mit ihm an der Spitze antreten, könnten sie nördlich der Grenze von der politischen Landkarte völlig verschwinden. Aus Sicht der Scottish National Party (SNP) ist Johnson als britischer Premierminister eine ausgezeichnete Nachricht (und damit eine Katastrophe für die meisten schottischen Konservativen). In Kombination mit dem Brexit (gegen den die meisten Schotten gestimmt haben) wäre dies für die sezessionistischen Kräfte Schottlands ein sehr starkes politisches Argument, nämlich dass ihre Interessen in einem von England dominierten Königreich nicht vertreten sind und ihre Unabhängigkeit die natürliche Lösung wäre. (Richard Grieveson, 30.7.2019)