Bild nicht mehr verfügbar.

Wird ein akutes Nierenversagen nicht rechtzeitig erkannt, kann im schlimmsten Fall sogar eine Nierentransplantation notwendig werden. Die nun vorgestellte Software liefert Ärzten eine frühzeitige Warnung.

Foto: AP/Johns Hopkins Medicine

Akutes Nierenversagen kann plötzlich und häufig unvorhergesehen auftreten. Arbeiten die Nieren nur mehr mangelhaft oder stellen sie gar ihre Filtertätigkeit gänzlich ein, reichern sich Harnstoff und andere schädliche Substanzen im Blut an, und der Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt gerät aus den Fugen. Bleibt der Zustand unbehandelt, steht am Ende ein lebensbedrohlicher Vergiftungszustand, die Urämie.

Im Durchschnitt erleidet einer von fünf Patienten in Spitalsbehandlung eine aktute Nierenschädigung. In den USA gehen geschätzte elf Prozent der Todesfälle in Krankenhäusern auf Nierenversagen zurück. Die Ursachen sind vielfältig und reichen von genetischen Faktoren und entzündlichen Prozessen bis hin zu Bluthochdruck und Diabetes mellitus. Wird ein drohendes Nierenversagen rechtzeitig erkannt, kann es – freilich abhängig von den jeweiligen Auslösern – gut behandelt werden, was den Betroffenen die belastende Dialyse ersparen kann. Häufig wird ein akutes Nierenversagen jedoch erst in einem sehr späten Stadium identifiziert – mit den entsprechenden gesundheitlichen Langzeitfolgen.

Doch die Vorhersagemöglichkeiten sind limitiert. Bisher blieb den Medizinern nur, bei Risikopatienten tägliche Labortests durchzuführen, wobei insbesondere nach verräterischen Harnstoff- und Kreatinin-Werten im Blut Ausschau gehalten wurde. Kürzlich aber haben US-Wissenschafter ein Vorhersage-Tool auf Basis einer künstlichen Intelligenz geschaffen, das ein akutes Nierenversagen bis zu zwei Tage vor seinem tatsächlichen Auftreten prognostizieren kann. Eine solche frühzeitige Warnung, dass ein Patient auf eine akute Nierenschädigung zusteuert, würde Ärzten mehr Zeit für die notwendige Behandlung geben.

48 Stunden Vorwarnzeit

Das Team um Joseph Ledsam vom US-Unternehmen Deepmind, das zur Google-Gruppe gehört, hat nun im Fachjournal Nature erste Ergebnisse seiner innovativen Software vorgestellt. Grundsätzlich soll der Algorithmus demnach im Idealfall bis zu 48 Stunden früher als herkömmliche Methoden vor einem akuten Nierenversagen warnen. Die dabei eingesetzte AI-Methode "Deep Learning" auf Basis eines neuronalen Netzes soll Muster in medizinischen Daten erkennen, die auf ein drohendes Krankheitsbild hinweisen. Die Datengrundlage, mit der das System trainiert wurde, bestand aus Informationen von über 700.000 Patienten, die zwischen 2011 und 2015 in 172 Krankenhäusern gesammelt wurden. Diese Spitäler dienten als Anlaufstellen des Gesundheitsprogramms des US-Kriegsveteranenministeriums.

Die Resultate waren grundsätzlich vielversprechend, allerdings häufig alles andere als eindeutig: In einem Zeitraum von maximal 48 Stunden vor dem tatsächlichen Eintreten sagte die Software 55,8 Prozent der stationären Fälle von akuten Nierenversagen und 90,2 Prozent jener Fälle, wo zumindest eine vorsorgliche Dialyse notwendig wurde, vorher. Andererseits kamen auf jeden korrekt prognistizierten Nierenschaden zwei falsche Alarme. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die verwendeten Daten: Nur 6,38 Prozent der berücksichtigten Patienten sind Frauen. Wie sehr die Ergebnisse also auf die Gesamtbevölkerung anwendbar sind, muss nach Ansicht der Wissenschafter noch überprüft werden.

Probleme mit dem Datenschutz

Das Unternehmen Deepmind stellt auf seiner Website darüber hinaus weitere KI-Innovationen für den medizinischen Sektor in Aussicht, unter anderem Fortschritte der für Ärzte konzipierten App "Streams", die bei der Überwachung von Patienten helfen soll und in die die Vorhersage von Nierenerkankungen integriert ist. In der Vergangenheit geriet Deepmind wegen dieser App jedoch in die Kritik: Im Rahmen einer Kooperation mit dem britischen Royal Free NHS Foundation Trust stellte sich heraus, dass die Firma auf Daten von 1,6 Millionen Patienen aus teilnehmenden Krankenhäusern, großteils ohne deren Wissen, Zugriff hatte, was im Widerspruch zum britischen Data Protection Act steht.

Obwohl viele Mediziner dem unterstützenden Einsatz von künstlicher Intelligenz im klinischen Alltag grundsätzlich positiv gegenüber stehen, haben manche Experten an der aktuellen Studie einiges auszusetzen. So kritisiert etwa Thomas Neumuth vom Innovation Center Computer Assisted Surgery (ICCAS) der Universität Leipzig, der an der Arbeit nicht beteiligt war, die Lernphase der vorgestellten Software: "Zum Training der KI und zur Überprüfung ihrer korrekten Funktion wurden Datensätze verwendet, die vorher nicht strukturiert worden sind. Die Daten wurden sowohl aus inhaltlicher als auch aus zeitlicher Sicht nicht einheitlich erfasst. Das trägt auch zur geringen Vorhersagequalität der KI bei."

Michael Joannidis von der Medizinischen Universität Innsbruck, ebenfalls nicht in die Studie involviert, sieht auch Probleme bei der unmittelbaren Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse im klinischen Alltag, insbesondere, was die hohe Anzahl von falschen Alarmen betrifft. "Bei einem Verhältnis von zwei falschen zu einem richtigen Alarm besteht in der täglichen Praxis die Gefahr, dass bei den behandelnden Ärzten eine sogenannte ‘Alarm-Fatigue’ auftritt", so der Notfallmediziner. Trotz dieser Einschränkungen sind die Wissenschafter um Ledsam davon überzeugt, dass das System den Medizinern künftig mehr Zeit für weitere wichtige Untersuchungen gibt, um bei tatsächlich von einem Nierenversagen bedrohten Patienten etwaige irreversible Schäden rechtzeitig abzuwenden. (Thomas Bergmayr, 1.8.2019)