Womöglich schätzen sich die per Ibiza und Misstrauensvotum freigestellten Mitglieder der verflossenen Regierung glücklich, lästiger Repräsentationspflichten entbunden worden zu sein. Auch die Salzburger Festspiele gehören ja dazu; und nicht jeder Minister ist ein Opernfan wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich Bayreuth nie und Salzburg selten entgehen lässt.

Gleich wird Braut Dircé (Rosa Feola) Schmerz verspüren: Médée (Elena Stikhina), als Servierdame verkleidet, wird keine Gnade haben.
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Nicht nur bezüglich Oper an sich, auch in Hinblick auf die Mi grationsthematik haben Ex-Mächtige in Salzburg eine tiefergehende Analyse versäumt, was womöglich ebenfalls in ihrem Sinne sein könnte. Regisseur Simon Stone zeigt anhand von Luigi Cherubinis Médée keine mythologische Mörderin. Er befasst sich bilderstark mit den Themen Migration, Entwurzelung und ihrer fatalen Verschränkung mit dem Trauma der Zurückweisung. Stone blickt hinter die Klischees allzu simpler Erklärungen von Gewalthandlungen, ohne diese zu beschönigen.

Nur 24 stunden Dasein

Täterin Médée landet also in Schwechat, um ihren Ex Jason und ihre Kinder aufzusuchen. Das Fernsehen ist live dabei, wenn Minister Creon (eher blass: Vitalij Kowaljow) die Verzweifelte in Anwesenheit der Exekutive am Daueraufenthalt hindern will. Schließlich gewährt er ihr eine Daseinsfrist von 24 Stunden. Doch Médées Bedarf an empathieloser Kühle ist längst gestillt, die Katastrophe nimmt ihren Lauf: Verkleidet als Servierdame, ersticht sie bei der Hochzeitsfeier ihres Ex die Braut Dircé und ihren Ministervater. Ein Massaker im noblen Hotel der Eheschließung.

Bemerkenswert: Stone setzt nicht nur auf parallel ablaufende Szenen in nebeneinander aufgebauten Räumen. Die Regie erhellt die Hintergründe der Handlungen dieser gedemütigten Frau in fil mischen Rückblenden, die den Platz der Dialoge einnehmen. In Schwarz-Weiß werden erste Szenen einer glücklichen Ehe geschildert. Stone ist mit der Kamera behutsam dabei, wenn beim Frühstück mit den zwei Söhnen geblödelt wird, Médée dann aber Jason beim horizontalen Vergnügen mit Dircé erwischt und alles Richtung Scheidung rast.

Die Einsamkeit der Figur und ihre Entfremdung vom Realen wird durch den Aufeinanderprall von Film- und Bühnengeschehen bewerkstelligt. Auch ihrem Opfern wird die Technik zuteil: Da steht etwa Jasons Braut vor der Filmleinwand und assoziiert singend Zwischenfälle herbei. In ihren filmischen Erinnerungsbildern taucht eine wütende Médée im Restaurant auf und attackiert Dircé (exzellent: Roas Feola).

Der Giovanni-Typ

Auch sie, mit der Jason Médée betrog, hat ihr Glück auf einer monströsen Demütigung aufgebaut. Und der an seiner Charakteroberfläche nette Jason ist auch ihr gegenüber ein Don-Giovanni-Typ. Vor der Hochzeit empfängt er im Hotel eine namenlose Schöne zwecks Abbau von Hormonstau. Auch dürfte Dircé entgangen sein, dass Jason mit ihrem Vater Creon in einem Nachtklub relaxte, in dem nackte Damen an Stangen tanzen. Alles gut für den Typen. Wenn nur nicht diese Médée ständig anrufen würde.

Sie wirkt zu diesen Jason-Szenen wie ein dunkler, melancholischer Kontrast. Von einem Internetcafé aus versucht sie, ihren Ex zu erreichen, der nie abhebt. Stone lässt Médée allerdings mehrmals auf dem Anrufbeantworter ihre Monologe sprechen, die zu den eindringlichsten Momenten dieser Inszenierung führen.

Die Telefonbotschaft

Im Dunkel ist nur noch die verzweifelt um ihre Kinder flehende Stimme (Amira Casar) zu vernehmen, die Jason (fängt sich mit der Zeit etwas, bleibt jedoch lange unsicher: Pavel Černoch) daran erinnert, was er "weggeworfen" habe. Es sind Dokumente der nostalgischen Verzweiflung einer Frau, die nicht loslassen kann und als letzte Telefonbotschaft ihre mörderische Absicht andeutet.

Das sind intime Szenen als psychologische Studien, welche die kraftvoll und impulsiv singende Elena Stikhina (als Médée) mit großer Eindringlichkeit um dramatischen Furor bereichert. Die Tankstellenszene (Bühne: Bob Cousins) vermag allerdings auch sie nicht zu retten. Hier gehen Stone die Kräfte aus. Statt mit einer szenisch-filmischen Fuge einen finalen Höhepunkt zu generieren, lässt er eine triviale Tragödie stattfinden.

Médée verabreicht ihren Kindern Pillen, übergießt sich und ihr Fluchtauto in Anwesenheit von Jason und Gefolge mit Benzin. Es raucht und lodert, und die Dramatik der Szene schrumpft zum verlegenen Aktionismus. Immerhin: Auch an dieser Feuerstelle war der dunkle, satte Klang der Wiener Philharmoniker zu genießen – der Dirigent Thomas Hengelbrock ließ besonders in den gesangsfreien Räumen der Partitur Passagen mit hoher Unmittelbarkeit aufleuchten.

Die Salzburger Festspielen haben ihre erste wirklich überzeugende Opernproduktion, die natürlich auch nicht ohne ein paar Buhs auskam. (Ljubiša Tošić, 31.7.2019)