Antike Amphitheater sind heute Filmkulisse ("Game of Thrones") und historisches Monument: Touristen haben schon in den 1950er-Jahren die Arenabühnen (hier: Epidauros in Griechenland) unsicher gemacht.

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Gründer und Intendant von Art Carnuntum: Piero Bordin.

Foto: Barbara Krobath

Das Festival Art Carnuntum ist dem antiken Theater gewidmet beziehungsweise der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit den mythologisch durchfluteten Tragödien und Komödien. Piero Bordin, ein halber Grieche, hält im ehemaligen Römerlager von Petronell/Carnuntum seit dreißig Jahren die Fahnen für das antike Theater hoch. Vor Ort hat er nicht nur Knochen gefunden, sondern auch ein historisch bedeutsames Ereignis entdeckt.

STANDARD: Peter Sellars hat kürzlich die Salzburger Festspiele eröffnet. Vor dreißig Jahren war er einer Ihrer ersten Gäste bei Art Carnuntum. Wie haben Sie das geschafft?

Bordin: Delphi! Das Orakel! (lacht) Nein, ich habe Peter Sellars beim Delphi Festival kennengelernt. Ich hatte zuvor, 1986, für die Wiener Festwochen Aristophanes' Ekklesiázousai übersetzt (Damenwahl). Danach suchte ich einen Hort für das griechische Drama. Damals gab es im Mittelmeerraum die großen Stätten für das griechische Drama: Epidauros, Syrakus und Merida. Ich wollte einen ähnlichen Ort für Mitteleuropa.

STANDARD: Aber im Amphitheater von Carnuntum wurde in antiker Zeit gar nie Theater gespielt?

Bordin: Ja, die Römer haben das Theater der Griechen verändert in Richtung Spektakel. Wo bei den Griechen der Botenbericht von der Schlacht war, stand bei den Römern das Schlachtgetümmel selber. Es ging um das blutige Erlebnis. In den Arenen wurden Menschen und Tiere bestialisch ermordet. Angeblich ließ Kaiser Commodus hier in Carnuntum an einem Tag einhundert Sträußen den Kopf abschlagen.

STANDARD: Warum war Carnuntum dann doch der richtige Ort?

Bordin: Wegen den philosophischen Selbstbetrachtungen des Marc Aurel, die er hier niedergeschrieben hat. Ich sehe den Ort immer sehr ehrfürchtig an. Wenn es nach mir ginge, müsste beim Amphitheater auch eine Gedenktafel angebracht sein, die darüber informiert, dass hier Menschen und Tiere ermordet wurden.

STANDARD: Für welches Publikum waren die Tötungen gedacht?

Bordin: Zur Abschreckung, denke ich. Um den Menschen zu zeigen, dass die Römer vor nichts Halt machen. Dabei war das alles auch als Unterhaltung intendiert. Ein dunkler Fleck in der Geschichte.

STANDARD: Sie sind an der Marathon-Straße in Griechenland aufgewachsen. Atmet man da den Mythos ein?

Bordin: Ja, ich habe als Kind auf der Marathon-Straße gespielt. Das Grundstück meiner Mutter lag direkt daneben, vier Kilometer vorm Ziel in Athen. Wir Kinder haben den Marathonläufern unserer Zeit immer Wasser gereicht.

STANDARD: Haben Sie sich damals schon für griechisches Theater interessiert?

Bordin: Das kam später. Wir waren zunächst viel im Kino, das ist für mich der Link zum Theater, denn damals gab es immer noch Pausen bei den Filmvorführungen. Das haben wir dann in Carnuntum übernommen: Die "Nacht der langen Schinken" mit Satyricon von Fellini oder Phedra mit Melina Mercouri.

STANDARD: Wie ist es Ihnen gelungen, so viele 1a-Acts nach Carnunum zu holen? Bob Wilson, Heiner Müller, Sir Peter Hall, Peter Stein, Tadashi Suzuki.

Bordin: Die kamen natürlich nicht wegen der Infrastruktur! Es ist der historische Ort und das geschichtliche Erbe, das die Künstler anzieht, weil dort schon vor 2.000 Jahren über das Theater philosophiert wurde.

STANDARD: Wilsons erstes Projekt war "Deafman Glance".

Bordin: Das war 1990, damals ging er durch die Volksschulklassen von Petronell und hat Kinderdarsteller gesucht. Er hat mit jedem Kind diskutiert. Unter den Zuschauern waren übrigens Heiner Müller und Claus Peymann.

STANDARD: Im Amphitheater von Petronell wird seit einigen Jahren immer im Zelt gespielt. Warum?

Bordin: Nicht nur wegen der Wetterfestigkeit. Das Spielen open air wird immer schwieriger wegen der wachsenden Zahl der Windräder mit ihren blinkenden Lampen.

STANDARD: Das antike Erbe, auf das sich Europa beruft – Demokratie und humanistische Werte –, wird oft in Stellung gebracht, um sich gegenüber islamisch geprägten Ländern abzugrenzen. Ist aber nicht das Ideal des antiken Griechenland eine Erfindung? Die Polis war weder liberaler noch ein Rechtsstaat, Ausländer lehnte man auch ab.

Bordin: Gewiss. Griechenland wurde mystifiziert. Es gab Sklaven ohne Rechte. Es war nicht alles ideal. Um ehrlich zu sein: Es waren Ansätze da, die sich sowohl zum Besseren wie auch zum Schlechteren entwickelten. Es geht mir aber um die griechisch-römischen Wurzeln unserer Kultur, wobei die natürlich auch viel von Persien übernommen haben. Aber das Theater ist schon eine griechische Erfindung mitsamt seiner Bauweise und Akustik. Ein 18.000-Plätze-Theater wie in Epidauros, das ist keine Kleinigkeit.

STANDARD: Diese antiken Theaterstätten dienen heute vor allem als Filmkulisse wie etwa Merida für "Game of Thrones". Verliert das antike Theater an Bedeutung?

Bordin: Im Überfluss der Medien geht das Interesse am antiken Theater tatsächlich zurück. Wir sollten unsere Wurzeln aber nicht links liegen lassen. Es bereitet mir Sorge, dass wir in eine Zeit der Geschichtslosigkeit driften.

STANDARD: Was wäre Ihr Wunsch für Carnuntum?

Bordin: Dass es ein Zentrum für antikes Theater im Herzen Europas bleibt. Und dass die Geschichte Carnuntums bewusster wird. Die Europäische Kommission hat Carnuntum das Europäische Kulturerbesiegel verliehen. Das sehe ich auch als Auftrag. Vielleicht gelingt es uns auch, die attische Komödie hier zu verankern. Was das Musical Cats einmal für Wien war, sollten Die Frösche von Aristophanes für Carnuntum werden. Aristophanes war ja ein Naturbursche und hat viele Tiere vorkommen lassen, Störche, Wespen, Mistkäfer. Herrlich!

STANDARD: Sie haben auch die Kaiserkonferenz 308 in Carnuntum ins Gedächtnis gerufen – relevant wegen des Beschlusses zur religiösen Toleranz. Warum macht niemand was daraus?

Bordin: Geschichtsbewusstsein fehlt. Ohne mich macht's keiner. Meine Idee wäre, die Kulturfabrik Hainburg, die übrigens eine neue Schiffsanlegestelle der Donau hat, zu einem Informationszentrum für das Kaisertreffen und einem Meetingpoint Carnuntum zu machen. Das könnte auch ein Ort für interreligiöse Dialoge sein. (Margarete Affenzeller, 2.8.2019)