Der Generalsekretär der Vereinten Nationen sprach Klartext: "Die Nationen müssen abrüsten, oder sie gehen unter", rief António Guterres den Botschaftern zu, die sich zur Genfer Abrüstungskonferenz versammelt hatten. "Schlüsselkomponenten der Architektur zur internationalen Rüstungskontrolle brechen zusammen", sagte Guterres und warnte vor einem Kollaps der Abkommen, die einen Atomkrieg verhindern sollen.

Auch Daryl Kimball, Direktor der Arms Control Association in Washington, erklärte, dass "der Respekt vor Schlüsselnormen der nuklearen Nichtverbreitung sowie internationalen Zusagen und Verpflichtungen erodiert".

Tatsächlich verheißen die Entwicklungen nichts Gutes: Die USA und Russland kündigten den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces; nukleare Mittelstreckensysteme) von 1987 per (heutigen) 2. August 2019. Damals hatten sich die USA und die Sowjetunion auf das Verbot bodengestützter Atomraketen und Marschflugkörper mittlerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) geeinigt. Der INF-Vertrag ist immerhin jenes bilaterale Abkommen, das "das nukleare Wettrüsten des Kalten Krieges beendete", hält der Experte Michael Krepon vom Stimson Center in Washington fest.

Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow warnte am Donnerstag: "Dieser Schritt macht die Weltpolitik unberechenbar und die Entwicklung chaotisch."

Heute werfen sich Amerikaner und Russen gegenseitig eine Verletzung der INF-Bestimmungen vor. Sobald die rivalisierenden Mächte nicht mehr an das Abkommen gebunden sind, dürfen sie ihre Arsenale wieder bestücken – und das dichtbesiedelte Europa wäre das potenzielle Einsatzgebiet der Massenvernichtungswaffen.

Auch Ende für New Start droht

Akut gefährdet scheint auch New Start. Es handelt sich um den einzig gültigen Vertrag zwischen Washington und Moskau über strategische Nuklearwaffen. Das Abkommen von 2010 erlaubt den Rivalen jeweils den Besitz von 1550 atomaren Sprengköpfen auf 800 Trägersystemen, etwa Interkontinentalraketen. Die Vereinbarung läuft 2021 aus, sie könnte aber um fünf Jahre verlängert werden. Krepon bereitet das Sorge: US-Präsident Donald Trump und sein nationaler Sicherheitsberater John Bolton hätten "weder die notwendigen diplomatischen Fähigkeiten noch offensichtlich ein Inter esse an einer Verlängerung" von New Start. Bolton selbst sagte über eine Verlängerung: "Es gibt keine Entscheidung, aber ich denke, eine Verlängerung ist unwahrscheinlich."

Weder Wladimir Putin noch Donald Trump halten am INF-Vertrag fest.
Foto: Brendan Smialowski / AFP

Ein Treffen hochrangiger Emissäre Trumps und Wladimir Putins Mitte Juli in Genf brachte keine Annäherung. Ohne New Start und den INF-Vertrag "würden zum ersten Mal seit 1972 keine verpflichtenden Grenzen für die zwei größten nuklearen Supermächte existieren", warnen Atomwaffenexperten in einem gemeinsamen Aufruf.

Weitere Ängste löst der Konflikt zwischen Indien und Pakistan aus. Niemand kann garantieren, dass eine konventionelle Konfrontation nicht nuklear eskaliert. Und Nordkorea lodert ebenfalls. Zwar scheint Trump persönlich Gefallen an Diktator Kim Jong-un gefunden zu haben, die USA verfügen jedoch über kein schlüssiges Konzept, um Kims Atomwaffenprogramm friedlich zu eliminieren. Ebenso hapert es bei Trump an einer diplomatischen Strategie für den Iran. Nachdem Trump das Wiener Abkommen von 2015 kündigte, fühlt sich auch Teheran nicht mehr daran gebunden.

All diese Bedrohungen dürften eigentlich nicht existieren, wenn die internationale Gemeinschaft den mehr als ein halbes Jahrhundert alten Atomwaffensperrvertrag (NPT) einhalten würde. Der NPT "ist weltweit der wichtigste multilateral verhandelte Vertrag über nukleare Rüstungskontrolle", heißt es in einem Grundsatzpapier des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri. Der Pakt bildet das Fundament des Systems zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen.

"Die fünf"

Der NPT trat 1970 in Kraft. China, Frankreich, Großbritannien, Sowjetunion (Russland) und die USA verpflichten sich zur "vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle". Die übrigen Unterzeichnerstaaten verzichten auf den Erwerb von Atomwaffen, dürfen jedoch Kernenergie friedlich nutzen. Indien, Pakistan und Israel traten dem NPT nie bei. Nordkorea trat 2003 aus. Bisher haben "die fünf" ihr Versprechen nicht eingehalten; sie untergraben die Legitimation des Sperrvertrags und schaffen Anreize für andere Staaten, nach Atomwaffen zu greifen. Kurzum: Wer einmal die Bombe hat, will sie nie mehr hergeben.

Michail Gorbatschow: "Dieser Schritt macht die Weltpolitik unberechenbar und die Entwicklung chaotisch."
Foto: AFP/VASILY MAXIMOV

Sipri geht für 2019 von knapp 13.900 nuklearen Sprengköpfen aus – über mehr als 90 Prozent kontrollieren die USA und Russland. Beide haben laut Sipri Programme aufgelegt, um ihre Systeme leistungsfähiger und moderner zu machen. Auch China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan feilen an neuen Systemen. Das nu kleare Wettrüsten, das der Sperrvertrag verhindern sollte, ist also in vollem Gange.

Eng verzahnt mit dem Sperrvertrag ist der Umfassende Vertrag zum Verbot von Atomtests von 1996, den mehr als 160 Staaten ratifiziert haben. Das in Genf verhandelte Abkommen ist aber nicht in Kraft – u._a. weil sich China und die USA verweigern. Ein weiteres Abkommen existiert nur in der Planung einiger unermüdlicher Abrüstungsbefürworter: der Vertrag über ein Verbot der Herstellung von spaltbarem Material. Seit den 1990er-Jahren liegt das Projekt bei der Genfer Abrüstungskonferenz in der Schublade. "Zu ernsthaften Verhandlungen kam es nie", gibt ein Diplomat zu.

Vergebliche Initiative Österreichs

Der multilaterale Stillstand wurde im Juli 2017 durchbrochen. In New York einigten sich 122 Staaten auf den Vertrag zum Verbot von Atomwaffen. Das Abkommen ächtet den Einsatz von Atomwaffen ebenso wie deren Herstellung, Besitz, Lagerung und Stationierung. Österreich, Brasilien, Irland, Mexiko, Nigeria und Südafrika hatten für das Verbot gestritten und dies mit den katastrophalen Folgen für die Menschheit begründet, sollte ein Atomkrieg ausbrechen. Die neun Nuklearwaffenmächte wollen von dem Pakt erwartungsgemäß nichts wissen – und machen ihn somit faktisch wertlos. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 2.8.2019)