Im Gastkommentar erinnert Politikwissenschafter Rainer Bauböck daran, dass Türkis-Blau die "Doppelstaatsbürgerschaft neu denken" wollte, dies aber nicht umgesetzt hat. Vor dem Brexit am 31. Oktober sei nun die Beamtenregierung am Zug.

Unter den vielen unerledigten Vorhaben der Regierung Kurz hat eines dramatisch an Bedeutung gewonnen, seit Boris Johnson in London das Amt des Premierministers übernommen hat und auf einen No-Deal-Brexit zusteuert. Im Regierungsprogramm 2017 wird unter der Überschrift "Doppelstaatsbürgerschaft neu denken" eine "Lösung für die Auslandsösterreicher im Vereinigten Königreich, die vom Brexit betroffen sind", angekündigt. Gemeint war damit, dass Österreicher in Großbritannien – im Gegensatz zu jenen, die in anderen EU-Staaten oder Drittstaaten leben – die österreichische Staatsbürgerschaft nicht automatisch verlieren sollen, wenn sie die britische erwerben.

Eile geboten

Ende Februar 2019 verabschiedete das Parlament noch ein Brexit-Begleitgesetz, das im Fall des ungeregelten Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU einen vereinfachten Zugang zu Aufenthaltsbewilligungen für Briten in Österreich vorsieht. Die versprochene Doppelstaatsbürgerschaft für Auslandsösterreicher wurde jedoch nicht angepackt. Vor dem Austritt am 31. Oktober wird es in Österreich wahrscheinlich noch keine handlungsfähige neue Regierung geben. Daher ist jetzt die Regierung Bierlein am Zug.

Sinnvoll wäre ein Paket, welches sowohl den Auslandsösterreichern in Großbritannien ermöglicht, die britische Staatsbürgerschaft anzunehmen, ohne die österreichische zu verlieren, als auch spiegelbildlich den Briten in Österreich die Einbürgerung anbietet, ohne die britische Staatsangehörigkeit zurücklegen zu müssen.

Keine Hindernisse anderswo

In Großbritannien gibt es seit dem Juni 2016 eine große Zahl von Briten, die ihre irischen Wurzeln entdecken und die irische Staatsbürgerschaft erwerben, um EU-Bürger bleiben zu können. Es gibt aber auch eine erkleckliche Zahl von niedergelassenen EU-Bürgern, welche die britische Staatsbürgerschaft beantragt und bekommen haben. Ihre Motive sind einerseits, dass sie – wohl zu Recht – befürchten, dass die britischen Garantien für sicheren Aufenthalt und Gleichberechtigung am Arbeitsmarkt im Fall eines No-Deal-Brexits nicht mehr viel wert sind. Viele sind aber auch durch das Ergebnis der Abstimmung motiviert worden, sich politisch zu beteiligen, und wollen bei den nächsten Wahlen gegen die Brexit-Parteien stimmen.

Viele Briten entdeckten ihre irischen Wurzeln und suchten um einen irischen Pass an. Auch in anderen EU-Ländern sind seit dem Brexit-Referendum die Ansuchen gestiegen.
Foto: Imago/Alberto Pezzali

Die meisten EU-Staaten legen ihren Bürgern in Großbritannien keine Hindernisse in den Weg: In 19 davon ist der Erwerb einer fremden Staatsbürgerschaft generell kein Grund für Ausbürgerung; Deutschland und Lettland akzeptieren Doppelstaatsbürgerschaft bei Erwerb einer EU-, EWR- oder Schweizer Staatsangehörigkeit; in Spanien genügt es, innerhalb von drei Jahren zu erklären, dass man Spanier bleiben möchte.

Unfreiwilliger Verlust

Warum sollte auch den Briten in Österreich die Doppelstaatsbürgerschaft ermöglicht werden? Sie befinden sich in einer noch schlimmeren Lage als die Österreicher in Großbritannien, denn sie verlieren ja mit dem Brexit – egal ob es sich um einen weichen, harten oder ungeregelten handelt – die Unionsbürgerschaft und damit das Recht, sich in Europa frei zu bewegen und niederzulassen. Und dieser Verlust ist unfreiwillig, weil die Briten in der EU mit großer Mehrheit gegen den Brexit gestimmt haben – sofern sie überhaupt wahlberechtigt waren, weil Großbritannien Auslandsbürgern das Wahlrecht nach 15 Jahren entzieht. Eine Ausnahmeregelung für Briten in Österreich ist daher – solange die Republik am anachronistischen Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft festhält – gut begründet.

Die österreichische Regierung – zuletzt noch im Jänner die damalige Außenministerin Karin Kneissl – beruft sich bei ihrer Ablehnung einer Liberalisierung oft auf das Europaratsabkommen zur Verringerung der mehrfachen Staatsangehörigkeit aus dem Jahr 1963. Seit den 1960er-Jahren gibt es jedoch einen weltweiten Trend zur Toleranz der Doppelstaatsbürgerschaft. Von 175 von uns untersuchten Staaten akzeptieren 112 die Doppelstaatsbürgerschaft für Einwanderer und 102 jene für Auswanderer.

Trend zur Toleranz

Das Straßburger Abkommen gilt nur zwischen jenen Staaten, die es ratifiziert haben. Großbritannien ist dem Kapitel 1, welches die Doppelstaatsbürgerschaft reduzieren sollte, nie beigetreten, daher ist dieses Abkommen für Österreicher im Vereinigten Königreich und für Briten in Österreich irrelevant. Fast alle Unterzeichnerstaaten des Abkommens sind inzwischen ausgetreten. Zuletzt haben dies Dänemark (2014) und Norwegen (2018) getan, weil sie ihre frühere Ablehnung der Doppelstaatsbürgerschaft aufgegeben haben. Die einzigen noch verbleibenden Staaten, die durch das Abkommen wechselseitig gebunden sind, sind die Niederlande und Österreich. Es gibt also keinerlei völkerrechtliches Hindernis für eine Reform.

Die Regierung Bierlein steht zu Recht auf dem Standpunkt, dass sie kein Mandat für politische Reformen hat, sondern nur dann neue Initiativen setzen kann, wenn Gefahr im Verzug ist. Der Anschluss Österreichs an den europäischen und weltweiten Trend zur Toleranz der Doppelstaatsbürgerschaft bleibt daher wohl eine Aufgabe der nächsten Bundesregierung. Aber mit dem hohen Risiko eines irregulären Brexits ist nun tatsächlich Gefahr im Verzug. Und das Vorhaben selbst ist nicht neu, sondern im letzten Regierungsprogramm angekündigt. Daher sollte die Regierung Bierlein jetzt handeln. (Rainer Bauböck, 2.8.2019)