"Die erste Liebe ist für jeden etwas Besonderes": lesbisches Coming-out in "Pirouetten" von Tillie Walden.

Tillie Walden, "Pirouetten". Aus dem Englischen von Sven Scheer. Reprodukt-Verlag, Berlin 2018

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Kabi Nagata, "Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit". Aus dem Japanischen von Nadja Gravert- Stutterheim. Carlsen-Verlag, Stuttgart 2019

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Mariko Tamaki & Jillian Tamaki, "Skim". Aus dem Englischen. Von Sven Scheer. Reprodukt-Verlag, Berlin 2019

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Nicht mehr das Reich der Kindheit, noch nicht das Reich des Erwachsenendaseins: Es ist ein gänzlich eigenes Reich oder bezeichnet doch zumindest ein unverwechselbares Ineinander beider Reiche, das außerdem ständig im Wandel begriffen ist.

Immer wieder wird die Zwischenwelt Heranwachsender und Jugendlicher in Comics ausgeleuchtet. Auffällig oft stammen diese von Zeichnerinnen, und die Hauptfiguren sind weiblich. Das Medium bietet ganz eigene Wege, um Zustände und Zäsuren, Phänomene und Vorgänge zur Sprache zu bringen, die sich nur allzu gern einem präzisen Ausdruck widersetzen. Wie unterschiedlich die Herangehensweisen und wie vielfältig und zugleich herausfordernd die Erfahrungen der Protagonistinnen sein können, lässt sich anhand einiger aktueller Comics andeuten.

Mädchenschule in Toronto

"Wie kann es sein, dass niemand außer mir hört, wie wild mein Herz pocht?" Die Erfahrung der Intensität und gleichzeitigen Schwierigkeit der Kommunizierbarkeit von Gefühlen, wie sie die sechzehnjährige Skim in dem gleichnamigen Comic Skim (dt. 2019) macht, katapultiert uns unverzüglich ins Epizentrum des Reichs der Jugend. Es ist nicht der erste Comic der beiden Cousinen Mariko und Jillian Tamaki, der nun auf Deutsch erschienen ist.

Bereits 2015 hat der Berliner Reprodukt-Verlag ihren Comic Ein Sommer am See herausgebracht, der sich auf feinsinnige Weise mit dem Thema des jugendlichen Erwachens und Erwachsenwerdens befasst. Skim ist das Comicdebüt des kanadischen Autorinnenduos. "Dies ist das Tagebuch von Kimberly Keiko Cameron (genannt Skim)" steht auf dem Umschlag. Der Comic fängt auf grandiose Weise die Stimmung an einer privaten Mädchenschule in Toronto ein, an der der Ex-Freund einer Mitschülerin Selbstmord begehen und die gesamte Schule in Aufruhr versetzen wird. Das Ganze spielt im Jahr 1993, im Umfeld von Gothic-Szene und Hexenzirkeln.

Angesichts des Selbstmordes wird eine Bewegung, "Mädchen leben gerne", auf den Plan gerufen. Während Skims Freundin Lisa solchen rührseligen Aktionen nur Spott entgegenbringt, sucht Skim nach eigenen Möglichkeiten, Eindrücke zu gewinnen und Gedanken zu entfalten. Ihre Wahrnehmungen macht sie aus den Augenwinkeln, vieles, was sie sich denkt, notiert sie, behält es aber für sich. Das Tagebuch erlaubt das. Es ist weniger definitiv, als die Umwelt draußen es verlangt, es lässt Durchstreichungen zu, Verkürzungen ("Meine Eltern = voll die Probleme", "Ich = voll die Probleme") und Korrekturen, etwa jener rettenden Lügen des Alltags.

Mischung aus Unsicherheit und Offenheit

Auch Ansichten, die sie mit ihrer Freundin nicht teilt, finden einen geschützten Platz. Die Vorbehalte gegenüber dem Definitiven erweisen sich als Vorzug. In der Ästhetik des Schwarz-Weiß-Comics spiegelt sich diese Mischung aus Unsicherheit und Offenheit: Immer wieder bleiben die Panelrahmen aus, die Verteilung von Schwarz und Weiß wie der poröse grobe Strich scheinen die existenziellen Erfahrungen der Protagonistin zu unterstreichen. Zu einem Schlüsselerlebnis wird die Begegnung mit Ms. Archer, Englischlehrerin und Leiterin der Theater-AG, die offenbar etwas in ihr berührt: "Und plötzlich sprudelte es nur so aus mir heraus, was komisch ist, denn eigentlich bin ich nicht besonders gesprächig."

Da eignet sich eine Klassenlektüre wie Romeo und Julia zum Gespräch: "Was, bitte schön, soll daran so toll sein, wenn ein Junge sich in ein Mädchen verliebt? Klar, es ist ein Meisterwerk (...)." Ms. Archer versteht es, die Rebellin in Skim zu entdecken und zu bestärken. Doch sie bringt auch ihr Herz zum Pochen. Dass dieses erotische Erlebnis mit Ms. Archer ein mehr oder weniger abruptes Ende erfährt, ist dabei letztlich nicht von zentraler Bedeutung, auch wenn das Karussell der Gefühle Skim in schwindelerregende Bezirke fortträgt: "Sechzehn zu sein ist das absolut Schlimmste, was ich bisher erlebt habe." Die junge Frau ist in eine neue Welt vorgedrungen und hat eine Erfahrung gemacht, die ihr niemand mehr entreißen wird. Der Schwindel dagegen stellt sich als einzukalkulierender Normalzustand dieser Zwischenwelt dar.

Das wird umso deutlicher, wenn man Kabi Nagatas autobiografischen Comic Meine lesbische Erfahrung mit Einsamkeit (dt. 2019) liest, in dem dieser Schwindel zunächst ausbleibt. An der Oberschule habe sie "ein friedliches und schönes Leben geführt", erwähnt die Protagonistin an einer Stelle. Als ob sich das rächen sollte. "Ich bin 28 Jahre alt und war noch nie mit jemandem zusammen, habe noch nie mit jemandem Sex gehabt und bin nebenbei bemerkt immer noch kein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft."

In einem Love-Hotel

Bereits der erste Satz der japanischen Zeichnerin lässt schlagartig die unverblümte wie schonungslose Direktheit verspüren, mit der diese Geschichte niedergeschrieben und aufgezeichnet ist: Nagata befindet sich gerade in einem Love-Hotel, zusammen mit einer lesbischen Prostituierten. "Ehrlich gesagt hängt hier keinerlei Erotik in der Luft ..." Die Zeichnungen sind großteils auf die Konturen beschränkt, die kargen weißen Flächen überwiegen und kontrastieren mit der pinken Kolorierung einzelner Elemente. Das kindlich wirkende Gesicht der Protagonistin ist durch wenige Schraffuren, mitunter bis zur Unkenntlichkeit, verwischt, Schweiß- und Angstperlen drücken ihre Verkrampfung aus: Das geht durch Mark und Bein.

Dass dieser Comic vom Erwachsenwerden erzählt, erklärt die Autorin selbst: Er beschreibe die zehnjährige Geschichte, in der sie ihr verlorenes Selbst wiedergefunden und "das Leben einer Erwachsenen" zu leben gelernt habe. Wie beschwerlich es war, diese offenbar verpasste Pubertät nachzuholen, mit der ihr verschlepptes Coming-out verknüpft ist, lässt sich in Stichworten andeuten: ein Studienabbruch, missglückte Jobverhältnisse, Essstörungen, Depressionen. Als ginge es darum, keine weitere Zeit mehr zu verlieren, erzählt die Autorin in einer fieberhaften Rastlosigkeit.

Coming-out verheimlicht

In Japan wurde dieser unter Pseudonym veröffentlichte Comic sehr positiv aufgenommen, eine Fortsetzung ist bereits angekündigt und erscheint diesen Herbst unter dem Titel Aufzeichnungen eines einsamen Aliens. Ihren Eltern dagegen hat die Autorin ihren Comic über das Coming-out bisher verheimlicht. In ihrer Beziehung zu den Eltern erkennt Nagata schließlich einen neuralgischen Punkt ihrer Leidensgeschichte.

Ihr letztlich unerfüllbares Bedürfnis nach elterlicher Geborgenheit habe ihr das anhaltende Gefühl vermittelt, sie "dürfe nicht erwachsen werden". Ein verhängnisvoller Irrtum, für den sie bitter bezahlen musste. Die Verrenkungen, die sich die Jugendliche Nagata antut, um sich auf dem Prokrustesbett der Kindheit einzurichten, deuten allerdings auf einen massiven Druck vonseiten ihres Umfelds hin, der einer lesbischen Identität keine Handbreit Raum zu lassen scheint.

Ein Coming-out ist auch in Tillie Waldens Pirouetten (dt. 2018) Thema: "Schon mit fünf wusste ich, dass ich lesbisch bin", lässt die US-amerikanische Zeichnerin ihr zwölfjähriges Alter Ego sagen. Der knapp 400 Seiten starke autobiografische Comic in Blau-Weiß mit gelegentlich eingesetzten Gelbkontrasten erzählt die Geschichte einer Kindheit und Jugend in Eishallen. Auf Eisflächen übte Tillie im Alter zwischen fünf und 17 Jahren als Eiskunstläuferin ihre Pirouetten, Sprünge und Twizzles ein und gab sie bei zahlreichen Wettbewerben zum Besten.

Eiskunstlauf und Sexualität

Was wie ein einziger melancholischer Tanz auf Eis wirkt, hatte einen hohen Preis: aufstehen um vier, das tägliche harte Training, in Obhut von Trainerinnen und fremden Eltern, Wochenenden alleine in Hotels, die Schule nebenbei. Hinzu kommen üble Mobbingerfahrungen, homophobe Einstellungen der anderen Mädchen, eine sexuelle Belästigung durch einen Erwachsenen.

Allerdings übt das Eiskunstlaufen, insbesondere angesichts wachsender Erfolge, durchaus eine große Faszination aus. Diese fesselnde Wirkung bringt der Comic ebenso elegant wie unscheinbar in seiner grafischen Choreografie der durch die Seiten tanzenden Tillie zu Papier. Zugleich spürt die Heranwachsende die zunehmende Enge des Korsetts. Dass sie über ihre sexuelle Hingezogenheit zu Mädchen bereits so lange Bescheid wusste, habe es ihr nicht leichter gemacht: "Ich wusste, dass es nicht richtig war, und behielt meine Gefühle für mich." In vielen kleinen Drehungen und Schritten beschreibt die Autorin Tillies Befreiung, in der sie nicht allein das Korsett der Eisprinzessinnen aufschnürt.

Der Zeitraum des Erwachsenwerdens entpuppt sich als Lebensabschnitt zwischen schmerzhafter Erstarrung und schwindelnder Erregung. Bezeichnend ist, dass alle Protagonistinnen, von Skim, Nagata bis Tillie, im Zeichnen ein wirkungsvolles Mittel finden, um der von der Gesellschaft bereitgestellten oder aufgedrängten Identität ihr eigenes Bild entgegenzusetzen. (Martin Reiterer, 3.8.2019)