Arnon Gruenberg und seine Freundin Roos in Salt Lake City.

Roos Van Ees

Polygamie: "Das Wichtige dabei ist, das unsere Religion, dass wir selbst Gott werden können; mehrere Frauen sind dabei von Vorteil."

Roos Van Ees

Ein verträumter Feldweg im US-Bundesstaat Utah.

Roos Van Ees

Im Frühjahr des Jahres 2018 wollte ich eine Reportage schreiben und verbrachte zu diesem Zweck gemeinsam mit meiner Lebensgefährtin Roos vier Wochen im Südwesten der USA. Sie recherchierte und fotografierte, ich schrieb. Wir waren auf der Suche nach Gott in Amerika, wollten herausfinden, welche Rolle die Religion in diesem Land spielt, was Gott und Trump verbindet.

In Amerika ist es sehr einfach, eine neue Kirche zu gründen. Deshalb stand uns eine große Auswahl an unauffälligen, kleinen Glaubensgemeinschaften zur Verfügung, die wir besuchen konnten. Anarchie und Religion gehen immer Hand in Hand. Eine der Kirchen, die wir besuchten, war The Peyote Way Church of God im südlichen Teil von Arizona, wo Jesus und der Peyote-Kaktus ungefähr dasselbe sind. Der Saft des Kaktus kann Halluzinationen hervorrufen, in denen möglicherweise Jesus erscheint.

Wir verbrachten eine Nacht in der Wüste, so, wie es uns die Anhänger der Kirche geraten hatten, und warteten auf die Halluzination, die jedoch nicht eintrat.

Diese Reise endete in Waco, Texas, wo im Jahr 1993 der falsche Prophet David Koresh zusammen mit 79 seiner Anhänger im Feuer umkam, nachdem das FBI das Gelände monatelang umzingelt hatte. Jener Pfarrer, der jetzt in Waco versucht, das Werk von Koresh weiterzuführen, jedoch ohne Waffen, sagte zu mir: "Du hast etwas von David Koresh, du bist auch ein falscher Prophet. Aber wir brauchen falsche Propheten, Trump ist auch so einer." Ich schloss diesen Teil der Reportage ab mit den Worten: "Wahrscheinlich kommen wir Menschen nicht ohne falsche Propheten aus, aber es wäre besser, wenn sie nicht mehr mit ihren Anhängern im Feuer umkommen würden."

Auf der Suche nach Liebe

In diesem Frühjahr wollte ich zusammen mit Roos eine Essay-Serie über das Thema "Liebe und Sexualität in den USA im Jahr 2019" schreiben und ergründen, wie man in Zeiten eines drohenden Handelskriegs und von Trump liebt. In Utah wollten wir vor allem mit Polygamisten darüber sprechen, wie man liebt, wenn man auch offiziell nicht die oder der Einzige ist. In Nevada planten wir Gespräche mit Sexarbeiterinnen, von denen wir wissen wollten, wie man liebt, wenn die Liebe auch ein Teil der Arbeit ist. Und in Oregon hatten wir vor, Polyamoristen die Frage zu stellen, wie man liebt, wenn man gleichzeitig mehr als eine Beziehung führt.

Kurz vor der Reise verliebte ich mich in eine andere Frau. Die Verliebtheit war so groß, wie Verliebtheit nur sein kann, und ich beendete meine Beziehung mit Roos. Zwei Tage später entdeckten wir, dass Roos schwanger war. Nichtsdestoweniger haben wir gemeinsam den Beschluss gefasst, diese Reise planmäßig durchzuziehen, obwohl das Thema plötzlich viel persönlicher wurde, als wir es uns zu Beginn der Reisevorbereitungen vorgestellt hatten. Man kann Trauer auf verschiedene Art und Weise bewältigen, auch mittels einer Reise durch fünf amerikanische Staaten auf der Suche nach Liebe und Sex.

Im Flugzeug nach Salt Lake City sagte Roos zu mir: "Der Pfarrer in Waco hatte damals recht, du bist ein falscher Prophet. Wir haben so lange von einem Kind gesprochen, und plötzlich möchtest du es nicht mehr, nur weil du verliebt bist. Was ist die Liebe wert, wenn man so leicht seine Meinung ändern kann." "Leicht würde ich es nicht nennen", antwortete ich.

Umarme einen schwulen Mormonen

In Salt Lake City fand gerade eine Konferenz der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, so die offizielle Bezeichnung der Kirche der Mormonen, statt. Die Kirche hatte kurz zuvor beschlossen, dass auch Homosexuelle Mitglieder werden können. Vor dem großen Konferenzgebäude stand ein junger Mann mit einem Schild: "Hug a Later Gay Saint." (Umarme einen schwulen spätberufenen Mormonen). Ein alter Herr sagte laut: "Nein, danke, lieber nicht." Andere wiederum umarmten den jungen Mann mit viel Gefühl.

Die Kirche ist gegen Polygamie, gegen Vielweiberei, aber es gibt verschiedene Abspaltungen der Kirche, die behaupten, dass deren Gründer und Prophet, Joseph Smith, geschrieben habe, dass man sich Gott nähern auch könne, wenn man als Mann mit mehreren Frauen gleichzeitig verheiratet ist. Die offizielle Kirche soll Smiths Aussagen zensiert haben.

In einem Außenviertel von Salt Lake City besuchten wir Tom Greene, er ist Anfang siebzig, hatte drei Frauen und fünfunddreißig Kinder. Früher hatte er einmal sieben Frauen, aber vier haben ihn verlassen. Wegen Polygamie hat er fünf Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht und auch deshalb, weil er eine seiner sieben Frauen, Linda, geheiratet hatte, als sie 13 war. Mit 14 war sie schwanger.

In einem großen Wohnzimmer saßen an zwei Tischen ungefähr ein Dutzend Erwachsene und anderthalb Dutzend Kinder.

"Das sind ein paar meiner Kinder und Enkelkinder", sagte Tom. "Wir essen Chili, nimm dir einen Teller und iss mit."

Wir setzten uns neben Tom und Linda, seine erste Frau, die nun 47 Jahre alt war. Während des Gerichtsverfahrens hatte sie sich geweigert, gegen Tom auszusagen.

Roos wollte wissen, ob sie mit 13 bereit war zu heiraten und mit 14, ein Kind zu bekommen.

"Ja", sagte sie, ohne zu zögern. "Ich war dazu bereit."

"Und was hat dich damals so an Tom fasziniert?"

"Er war sehr klug, und er spielte Gitarre."

Zum Nachtisch gab es Wassereis. Tom sagte: "Meine Polygamie stützt sich hauptsächlich auf meine Religion, aber auch ohne Religion hätte ich die Polygamie bevorzugt. Wir hätten nie in diesem schönen, großen Haus leben können, wenn wir nicht all unsere Einkünfte zusammengelegt hätten. Und in einer monogamen Beziehung hätte ich niemals 35 Kinder bekommen. Polygamie führt die intelligentesten Männer und Frauen zusammen. Es ist ein ganz natürlicher Auswahlprozess."

Polygamist und Jongleur

Sie haben ein Schema, nach dem Tom seine Nächte mit den Frauen verbringt. "Aber um unter seinen Frauen keinen Unfrieden aufkommen zu lassen", sagte Carry, "flüstert er immer den Frauen, bei denen er nicht schlafen wird, ins Ohr: ‚Wenn es nur die Nacht bei dir wäre.‘"

Der Polygamist ist auch ein Jongleur. "Und wie steht es um die Eifersucht?", wollte ich wissen. Shirley, 49, Toms dritte Frau, hatte sich zu uns gesetzt: "Ach, ich habe einer meiner Schwesterfrauen einmal eine Zitruspresse nachgeworfen."

Solche Vorfälle gibt es auch in monogamen Beziehungen, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Roos und ich erzählten ihr noch kurz etwas über unsere eigene Geschichte, dann wurde es langsam Zeit zu gehen.

"Was hast du eigentlich gemacht, bevor du im Gefängnis warst?", wollte ich noch wissen.

"Ich war Handelsreisender, ich ging zusammen mit meinen Frauen von Tür zu Tür, um Zeitschriftenabos zu verkaufen. Nimm deine Verliebtheit doch nicht zu ernst, Liebe ist nur eine Hitze welle."

Wir fuhren zurück nach Salt Lake City. Der Handelsreisende, das Gefängnis, ein Prophet und die Liebe, die nur eine Hitzewelle ist. Ja, all das ist Amerika.

In Delta, einem ungefähr zwei Stunden Autofahrt entfernten Städtchen in der Wüste südlich von Salt Lake City, wohnt mitten in der Wüste James Justice (ein Pseudonym) zusammen mit seiner ersten Frau und seiner jüngsten Tochter. Während des Zweiten Weltkriegs waren in dieser Wüste ungefähr zehntausend japanische Amerikaner interniert. Nach dem Angriff auf Pearl Harbor hatte Präsident Roosevelt verfügt, dass sich alle japanischen Amerikaner, die im westlichen Teil der USA leben, sich in den östlichen Teil des Landes begeben müssen, um dem Risiko einer möglichen Inhaftierung zu entgehen. In dieser Wüste lebt James Justice, seinen Strom bezieht er aus einer eigenen Solaranlage.

"Sie war eine Fata Morgana"

An einem kalten Abend, tagsüber hatte es noch geschneit, Delta liegt auf fast 1500 Meter Höhe, empfing uns James Justice. "Wenn er ein Serienmörder ist", flüsterte ich Roos ins Ohr, "wird uns hier keiner jemals finden."

Durch einen werkstattähnlichen Raum gelangten wir in die Küche. James war Ende fünfzig und trug ein Bärtchen. Seine Frau hatte Bohnensuppe gekocht. Lexie, die jüngste Tochter, begrüßt uns. "Ich habe gebetet", sagte Michele, die Frau von James, sie war ein Jahr älter als er, "‚Lass die zweite Frau nicht kommen!‘, aber ich wusste, dass Satan gesiegt hätte, wenn ich meine Familie verlassen hätte."

"Und hast du die zweite Frau am Ende geliebt?", fragte ich.

"Erst kam der Respekt, dann kam die Liebe", sagte Michelle.

"Sie war eine Fata Morgana", fügte James hinzu.

"Meine zweite Frau, Candace, sie war eine pathologische Lügnerin, sie war nie wirklich hier, und trotzdem vermisse ich sie noch immer sehr. Mein Herz ist noch immer offen für eine neue zweite Frau, aber ich bin zu alt und zu hässlich. Am Anfang steht immer eine Vision, am Anfang jeder Liebe steht immer eine Vision."

James seufzte und wollte wissen, ob wir noch mehr Suppe möchten. "Man wächst an seinen Niederlagen", sagte er.

"Und, wirst du bald heiraten?", fragte ich Lexie.

"Ich bin noch nicht bereit zu heiraten", antwortete sie, "aber Verliebtsein ist mir schon wichtig." Der Vater sagte: "Es gibt einige Männer, die Lexie umwerben. Darunter auch ein Mann, der bereits mehrere Frauen hat. Auch ein Schwager von Lexie hat ihr einen Antrag gemacht, aber sie hat sich noch nicht entschieden, sie schreibt auch Kurzgeschichten. Und sie kümmert sich um die Ziegen, sie ist unsere Ziegenflüsterin. Das Wichtige dabei ist, sagt unsere Religion, dass wir selbst Gott werden können; mehrere Frauen sind dabei von Vorteil."

Am darauffolgenden Tag kamen wir noch kurz zurück, um die Ziegen zu fotografieren. James sagte beim Abschied: "Ich werde euch wirklich vermissen." Roos flüsterte mir ins Ohr: "Wir besuchen den einsamen Polygamisten."

In Hildale, unweit der Grenze von Arizona, kann man in Zion’s Most Wanted Hotel ein Zimmer mieten. In diesem Gebäude lebte Warren Jeffs mit seinen Frauen, es waren ungefähr achtzig. Das FBI hatte ihn im Jahr 2006 auf die Liste der meistgesuchten Verbrecher, der "most wanted", gesetzt. Jetzt verbringt er in Texas den Rest seines Lebens hinter Gittern.

Das Most Wanted Motel erinnerte uns an einen Film von David Lynch, in dem am Empfang zwei etwa zehnjährige Kinder sitzen, die die Gäste empfangen. Und die Worte "most wanted" erinnern auch an Verliebtheit. Was ist Verliebtheit denn anderes, als dass die eine Person "most wanted" und die andere nicht "wanted" ist.

Gott ist nicht hier

Wir waren dort, um in Colorado City, das fünf Minuten von Hil dale entfernt ist, mit Marion, einem jungen Polygamisten, zu sprechen. Es war Sonntagnachmittag, und Marion war gerade beim Grillen, als wir eintrafen. Er war dreißig Jahre alt, trug einen weinroten Pulli und wirkte durchtrainiert. "Nimm dir einen Hot Dog", sagte er.

Wir setzten uns in den Garten."Ich kann mir Liebe ohne Gott und Religion nicht vorstellen", sagte Marion. "Was für eine Liebe soll das sein? Affen kennen keine Liebe."

"Affen kennen Verbundenheit", sagte Roos.

"Die niedrigste Form der Liebe ist die Verliebtheit, die Bewunderung", sagte Marion. "Gott ist nicht hier, deshalb müssen wir ihn vertreten, Gott kann euch keine Wassermelone anbieten, aber mein Sohn kann das."

Einer von Marions Söhnen reichte uns ein Stück Wassermelone. Es wurde langsam kalt, und wir setzten uns ins Wohnzimmer auf eine große Couch. Dort waren auch Marions erste Frau Holly und seine dritte Frau Lisa; seine zweite Frau war gerade in Las Vegas. "Wir hatten neun Jahre lang eine monogame Beziehung", sagte Holly, "aber dann erschien die Polygamie am Horizont. Wen wir als Partner wollten, wussten wir damals noch nicht. Und dann kam Katie! Im Jahr 2013, es war wie ein Tornado."

"Und die Eifersucht?", fragte ich, während Marion mit Überzeugung einen Hamburger aß. "Ist da noch so etwas wie Eifersucht mit im Spiel?"

"Ich schaue mir manchmal meine Schwesterfrauen an, und dann sehe ich, dass sie schöne Haare haben und schlank sind, aber das Konkurrenzdenken ist nicht so mein Ding. Ich versuche nur, den Tatsachen ins Auge zu sehen, nämlich dass meine Schwesterfrauen mit meinem Mann ins Bett gehen, dessen muss man sich stets bewusst sein. Ich versuche, in der Realität zu leben."

"Und wie bist du seine dritte Frau geworden?", fragte ich Lisa.

Lisa hat lange blonde Haare und trägt ein schwarzes Röckchen. "Wir haben dieselbe Schule besucht", antwortete sie, "wir hatten damals schon was miteinander, aber ganz unschuldig, wir haben nur rumgeknutscht. Dann habe ich mich in Marions besten Freund Mike verliebt, den ich dann auch geheiratet hatte. Wir haben drei gemeinsame Kinder."

Ein gebrochenes Herz

"Ich hatte zehn Jahre lang ein gebrochenes Herz", sagte Marion. "Was ich jedoch nicht wusste und worauf ich erst später kam, war, dass Mike drogenabhängig ist. Er hat angefangen zu stehlen, kam ins Gefängnis, wurde freigelassen, kam dann wieder ins Gefängnis. Ich dachte, dann lebe ich mein Leben eben alleine, ganz alleine und ohne Mann. Aber dann kam Marion, und er schlug mir vor, seine dritte Frau zu werden. Er sagte: ‚Lass uns zuerst gemeinsam beten.‘ Wir hatten zusammen gebetet, aber danach habe ich monatelang nichts mehr von ihm gehört, bis eines Nachmittags plötzlich ein großes Blumenbukett bei mir angekommen war. Ich dachte mir, das müsse ein Irrtum sein. Aber auf einem Kärtchen im Blumenbukett stand: ‚Von Marion, Holly und Katie. Ruf uns an.‘ Ich habe angerufen. Das erste Jahr war so schwer, ich würde mir lieber den Arm ausreißen lassen, als das noch einmal durchmachen zu müssen."

Holly nickte, man sah ihr die Betroffenheit an. Dann sagte sie: "Wir sind auch untereinander solidarisch, wenn eine von uns Marion rauswirft, dann lässt keine andere ihn herein, dann muss er auf der Couch übernachten."

"Ach", sagte Marion, "das Geheimnis der Polygamie ist: Keep your enemies close." (Halte deine Feinde bei dir.)

Vielleicht ist dies das Geheimnis der Liebe.