Einen Rekord hat er schon gebrochen: Nach nur neun Tagen im Amt ging Boris Johnson bereits ein Parlamentssitz verloren. So schnell hat das vor ihm noch kein Premierminister in der britischen Geschichte geschafft: Bei Robert Asquith im Jahr 1908 dauerte es immerhin 16 Tage.

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Zweite Arbeitswoche, erste Wahlschlappe für Boris Johnson.
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Das Debakel passierte bei den Nachwahlen zum Unterhaus im walisischen Wahlkreis Brecon and Radnorshire, wo die Liberaldemokratin Jane Dodds den Konservativen Chris Davies ablöste. "Das Erste, was ich als neue Abgeordnete tun werde", verkündete Dodds, "ist, Boris Johnson zu finden, wo immer er sich auch versteckt, und ihm zu sagen: Hör auf, mit der Zukunft unserer Kommunen zu spielen, schließ einen No-Deal-Brexit aus!"

Die Schlappe ist schlimm für Johnson, denn mit dem Mandatsverlust schrumpft die Regierungsmehrheit auf lediglich einen Sitz. Die Konservativen werden in einem Duldungsabkommen von den nordirischen Unionisten (DUP) unterstützt. Einige Unabhängige stimmen zurzeit ebenfalls noch mit der Regierung. Aber die Majorität im Unterhaus ist jetzt nur noch hauchdünn. Angesichts dieser parlamentarischen Arithmetik werden die Aussichten auf Neuwahlen immer größer.

Johnsons Strategie ist riskant. Er hat seine Partei beim EU-Austritt extrem aufgestellt, um die noch extremere Brexit-Partei abzuwehren. Immerhin war die Truppe um Nigel Farage bei der Europawahl im Mai die stärkste Kraft im Land geworden.

Allianz der Anti-Brexit-Parteien

Jetzt zeigt sich, dass ein solcher Kurs die moderaten Tory-Wähler zu den Liberaldemokraten abwandern lässt, die in Brecon and Radnorshire gut zehn Prozentpunkte zulegen konnten. Es half, dass es dort zu einer Allianz der Anti-Brexit-Parteien kam. Die Grünen und die walisischen Nationalisten überließen den Lib Dems das Feld und traten gar nicht erst an. Die Bündelung der "Remain"-Kräfte soll, bestätigte die neue Lib-Dem-Chefin Jo Swinson am Freitag, ein Modell für das ganze Land werden, wenn es zu Neuwahlen kommt. Egal ob grün, liberal oder nationalistisch in Wales und Schottland: Wer die besten Chancen gegen die Konservativen hat, soll den Vortritt bekommen.

Die Nachwahl zeigte zudem, dass die größte Oppositionspartei Labour mit ihrem bisherigen Lavieren beim Brexit keinen Blumenstrauß gewinnen kann. Ihre Wählerschaft brach um zwölf Prozentpunkte ein – Platz vier, noch hinter der Brexit-Partei, deren zehneinhalb Prozent Stimmanteil die Konservativen wohl den Sitz gekostet haben. Das wird den Druck auf Parteichef Jeremy Corbyn erhöhen, Labour endlich als Partei zu positionieren, die sich klar für den Verbleib in der EU ausspricht.

Die walisische Wahlschlappe wird Johnson dennoch nicht von seinem harten Brexit-Kurs abbringen. Er hatte im Tory-Wahlkampf hoch und heilig versprochen, den Austritt zum 31. Oktober zu vollziehen, selbst wenn das auf einen No-Deal-Brexit hinauslaufen würde.

Kein Kurswechsel möglich

Zugleich hat Johnson die Aussichten, dass es einen Deal mit der EU geben könnte, fast zunichtegemacht, indem er das von seiner Vorgängerin Theresa May unterzeichnete Austrittsabkommen für "tot" erklärte und die Abschaffung des Backstops fordert, der eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland verhindern soll. Johnson weigert sich, mit Brüssel Gespräche zu beginnen, solange die EU-Seite nicht einlenkt. Die Finanzmärkte bestraften die harte Position mit einer Pfund-Abwertung.

Auch die Bank of England sieht große Risiken in einem No-Deal-Brexit. BoE-Chef Mark Carney sprach von einem Schock für die Wirtschaft: Das Pfund würde weiter sinken, die Inflation steigen und das Wirtschaftswachstum schrumpfen. Schon jetzt gibt es Einbrüche, Investitionen bleiben aus. Im zweiten Quartal stagnierte die Wirtschaft. Für dieses und nächstes Jahr hat die BoE das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts auf 1,3 Prozent heruntergestuft – wohlgemerkt unter der Voraussetzung, dass es zu keinem ungeregelten Austritt kommt.

In die Ecke geboxt

Dennoch wird Boris Johnson nicht einlenken wollen. Er hat sich in eine Ecke geboxt, aus der er nicht mehr herauskommt. Bei einer Kehrtwende würde die Parteirechte rebellieren. Im Moment muss Johnson die geschrumpfte Regierungsmehrheit nicht kümmern, denn das Parlament ist bis Anfang September in der Sommerpause. Doch danach könnte es eng werden. Rafft sich Labour dazu auf, einen Misstrauensantrag zu stellen, bräuchte es nur eine Handvoll Tory-Rebellen, um den Premier zu Fall zu bringen.

Dann hätte Boris Johnson einen neuen Rekord aufgestellt: Er würde zum Premier mit der kürzesten Amtszeit in der britischen Geschichte. George Canning schied 1827 nach 119 Tagen aus dem Job. Aber der hatte immerhin die Entschuldigung, an einer Lungenentzündung zu versterben. (Jochen Wittmann aus London, 2.8.2019)