Das ORF-Kanzlerduell zwischen Sebastian Kurz und Christian Kern hatte 2017 fast eine Million Zuseher. Die beiden haben offenbar Gefallen am Format der Konfrontation gefunden und führen das Duell bis heute fort – allerdings ohne Moderatorin Claudia Reiterer.

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Für Innenpolitik-Aficionados wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um sich ein neues Fernsehgerät zuzulegen. Ab heute, Montag, besteht bis zur Nationalratswahl Ende September nahezu täglich die Gelegenheit, sich mit Sommergesprächen, Pressestunden, Wahlarenas, TV-Konfrontationen, Reality-Checks und Elefantenrunden zuzudröhnen. In insgesamt über 40 Sendungen werden die Spitzenkandidaten in den kommenden zwei Monaten auf der Mattscheibe erscheinen.

Normal sei das nicht, jedenfalls wenn man den internationalen Vergleich heranzieht, erklärt der Kommunikationswissenschafter Jakob-Moritz Eberl von der Universität Wien. In der quantitativen Explosion der Formate in den österreichischen Fernsehwahlkämpfen ortet er "mittlerweile schon absurde Dimensionen". Während sich in Deutschland die großen Sendeanstalten zusammenschließen und TV-Duelle gemeinsam moderieren, kochen in Österreich alle Sender ihr eigenes Süppchen. ORF, ATV, Puls 4, oe24 und Servus TV bieten jeweils eigene Formate an. Ob diese quantitative Vielfalt auch mit einer inhaltlichen Bereicherung einhergeht, ist allerdings mehr als fraglich: "2017 haben wir erlebt, dass immer wieder dieselben Phrasen und Slogans präsentiert wurden", erinnert sich Eberl.

Gute Einschaltquoten

Doch wie bedeutsam sind die TV-Formate für den Wahlkampf eigentlich? Wenn es nach Medien und Politikern geht: sehr. Bei Ersteren dürfte freilich das ökonomische Interesse im Vordergrund stehen, sorgen die Fernsehduelle doch regelmäßig für traumhafte Einschaltquoten und damit Werbeeinnahmen. 2017 sahen im Schnitt 560.000 die fast dreistündige Elefantenrunde bei Puls 4, im ORF waren 1,2 Millionen dabei. Das damals meistgesehene Duell (Christian Kern, SPÖ, gegen Sebastian Kurz, ÖVP) verfolgten auf Puls 4 im Schnitt 623.000, im ORF 970.000 Menschen.

Relevante Einladungspolitik

Dass in einer derart medialisierten Gesellschaft auch die Politiker Interesse an überbordender TV-Präsenz hegen, liegt auf der Hand. Das zeigt sich nicht zuletzt an den emotionalen Debatten über die Einladungspolitik der Sender. Auf Twitter lieferte sich Peter Pilz jüngst ein Scharmützel mit Puls-4-Infochefin Corinna Milborn, weil Pilz nicht bei den Zweierduellen dabei ist, was ihn sogleich eine Verschwörung des Privatsenders gegen sich wittern ließ.

Der ORF gab vor den Einladungen sogar eine eigene "Relevanzstudie" in Auftrag, die dazu führt, dass zusätzlich zu den Parlamentsparteien auch die Grünen bei den Konfrontationen dabei sein werden, da sie als hinreichend relevant klassifiziert wurden. Die KPÖ und der Wandel, die ebenfalls bundesweit antreten, dürfen hingegen nicht mitreden. Bedenklich erscheint daran allerdings, dass gerade aufgrund der Dominanz des Fernsehens vorab festgelegte Relevanzbehauptungen selbstverstärkende Effekte zeitigen können und als selbsterfüllende Prophezeiungen wirken können: Wer schon im Vorfeld als irrelevant eingestuft wird, bleibt ohne Fernsehpräsenz in der politischen Arena im Endeffekt wahrscheinlich wirklich irrelevant.

Wien, Wien, Wien

Die große Zahl an Fernsehdebatten prägt bei den Spitzenkandidaten auch die geografische Verteilung der Termine und befördert die ohnehin vorhandene Wien-Lastigkeit, schließlich befinden sich nahezu alle Fernsehstudios in der Bundeshauptstadt. Für längere Touren durch die Bundesländer bleibt somit immer weniger Zeit, der persönliche Kontakt mit den Menschen auf Kirtagen, Festen und Märkten verliert für die Spitzenkandidaten tendenziell an Gewicht.

Zufälligkeiten der menschlichen Alltagskommunikation werden minimiert, die einstudierte Professionalität der TV-Performances auf die Spitze getrieben. Dementsprechend diagnostiziert Kommunikationswissenschafter Eberl eine "außerordentliche Amerikanisierung österreichischer Wahlkämpfe".

Sympathie wichtig, Abneigung nicht

Bei den Zusehern dürfte das allerdings gut ankommen, wie die Rekordquoten belegen. Es stellt sich die Frage, was die Menschen eigentlich zum Konsum der politischen TV-Events animiert. Dreht man ab, um einem verhassten Kandidaten nicht zuhören zu müssen? Schaut man eher zu, wenn der eigene Wunschkandidat dabei ist? Der Politologe Markus Wagner wollte es genau wissen und hat die Motivlage der Zuseher anhand der ORF-Duelle des Nationalratswahlkampfes 2013 analysiert. Das Ergebnis: Für die Zuseher-Entscheidung ist Sympathie wichtiger als Abneigung. Die Wahrscheinlichkeit, den Fernseher einzuschalten, hängt also vor allem davon ab, ob man einen der Diskutanten gut findet. Ob man den zweiten Politiker schlecht findet, hat hingegen kaum Einfluss.

ORF

Am höchsten ist die Wahrscheinlichkeit, wenn man sich theoretisch vorstellen kann, beide Diskutanten zu wählen, aber noch unschlüssig ist. Wagner schließt daraus, dass die Zuseher die TV-Konfrontationen durchaus nützen wollen, um sich ein informiertes Urteil für ihre Präferenzen zu bilden. Es geht mithin auch um Erkenntnisse für die Wahlentscheidung, nicht bloß ums Spektakel.

Austausch auf "second screens"

Mindestens ebenso wichtig wie die TV-Auftritte selbst ist die einordnende und kommentierende Nachbearbeitung der Sendungen. Die Ad-hoc-Analysen von Peter Filzmaier erzielen regelmäßig mehr Aufmerksamkeit als die Gespräche an sich, und auch die zusammengeschnipselten Kurzversionen sind beliebte Quellen, wenn einem die epische Breite der Diskussionen zu viel wird. Social-Media-affine Seher greifen hingegen gerne zu einem weiteren Gerät – einem sogenannten "second screen" –, um sich etwa mittels Smartphone auf Twitter über markante Sager auszutauschen und über rhetorische Hoppalas zu amüsieren. Auch Bingospiele, bei denen typische Politikerphrasen anzukreuzen sind, soll es geben.

Die erste Möglichkeit dafür böte sich beim heutigen ORF-"Sommergespräch" mit Jetzt-Obfrau Maria Stern. Bei den "Sommergesprächen" liegt die Latte übrigens recht hoch, glaubt man einer neuen Auswertung der Akademie der Wissenschaften. Studienautor Andreas Riedl hat sich 125 Folgen des Formates angesehen und fand heraus, dass die interviewten Politiker auf drei von vier Fragen tatsächlich inhaltlich eingingen. Na dann: Let the show begin. (Theo Anders, 5.8.2019)