Seit gut einer Woche leuchten die Buchstaben CEU vom Dach des Gebäudes in der Quellenstraße 51 in Wien. Mitten in Favoriten, Wiens zehntem Gemeindebezirk, hat die aus Ungarn vertriebene Central European University ihre neue Heimat gefunden – zumindest vorläufig. Seit Juli ist die vom ungarischstämmigen US-Milliardär George Soros gegründete Hochschule nicht nur als US-Universität, sondern auch als österreichische Privatuniversität akkreditiert.

Central European University

"Im Oktober werden wir zumindest teilweise den Betrieb in Wien aufnehmen", erklärt Liviu Matei, Professor für Public Policy an der CEU und zudem noch deren Vizerektor. "Aber 2019/20 wird erst einmal eine Art Übergangsjahr werden." Liviu Matei, ein international renommierter Experte für Hochschulpolitik, war dieser Tage einer der Hauptvortragenden beim Sommerdiskurs, der alljährlich im Rahmen der Sommerhochschule der Universität Wien in Strobl am Wolfgangsee stattfindet und der thematisch diesmal Europa und seiner Zukunft gewidmet war.

Einigender Faktor Wissenschaft

Matei referierte über "Wissenschaft als einigenden Faktor für Europa" und brachte dafür zahlreiche positive Beispiele: vom Bologna-Prozess über den Europäischen Forschungsrat bis zu den über zehn Millionen Teilnehmern des Studentenaustauschprogramms Erasmus. Das Schicksal der 1991 in Budapest gegründeten CEU indes fällt im Hinblick auf diese einigende Rolle der Wissenschaft aus dem Rahmen.

Das liegt weniger daran, dass die CEU sich bisher der Struktur nach am US-Hochschulsystem orientierte, als daran, dass ihre jüngste Geschichte einen Präzedenzfall in der EU darstellt: Noch nie zuvor ist eine Hochschule in der EU gezwungen worden, in ein anderes Land zu übersiedeln. Ein auf die CEU zugeschnittenes Gesetz von Viktor Orbáns rechtskonservativer Regierung machte die Flucht nach Wien zum letzten Ausweg.

Abgeschmetterte Proteste

Warum die europäischen Proteste letztlich wenig halfen, erklärt Matei bei seinem Vortrag und im Interview vor allem auch damit, dass auf europäischer Ebene die Freiheit von Forschung und Lehre gesetzlich nicht verankert ist. Insofern konnte Orbán alle Proteste aus Brüssel ignorieren, weil sie letztlich nicht durch Gesetzestexte begründbar waren.

Das entsprechende Verfassungsgesetz in Ungarn wurde geändert, wie Matei erklärt: "Das Grundprinzip der akademischen Freiheit wurde durch das des Nationalstolzes ersetzt. Wenn man also etwas lehrt, das diesen Leuten nicht passt, darf man das nicht machen." Dazu gehören auch die Gender-Studies – was einerseits darauf hinweist, wie wichtig solche Fächer sind, wenn sich Orbán davor anscheinend fürchtet.

Demütigung der Intellektuellen

Andererseits hat es für Matei aber auch etwas sehr Zynisches, wie mit der CEU und zuletzt mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften umgegangen wurde: "Sie wollten die Intellektuellen natürlich auch demütigen." Zudem diagnostiziert der aus Rumänien stammende Matei, dass Orbán und seine Leute einfach die totale Kontrolle anstreben: "Sie wollen die Intelligenzija, die Bürokratie und die Rechtsprechung kontrollieren. Und das Letzte, was sie dafür brauchen, sind eigenständig denkenden Menschen."

Zu Letzteren gehören zweifellos die Mitarbeiter und die Studierenden der CEU, die im nächsten Studienjahr zwischen Wien und Budapest pendeln werden. Im Studienjahr 2020/21 werden dann in Wien-Favoriten auch die ersten Bachelorstudiengänge auf Basis der österreichischen Akkreditierung dazukommen.

Dann werde man versuchen, das Beste aus dem US-System und dem europäischen zu kombinieren. Ob und wie lange die CEU dann in Wien-Favoriten bliebt, sei auch noch nicht ganz klar, sagt Matei: "Der Plan, dass wir in fünf oder sechs Jahren auf die Steinhofgründe übersiedeln, besteht weiterhin. Aber wir stehen diesbezüglich noch in Verhandlungen mit der Stadt Wien."

Ungarn ist für Matei zwar noch keine Diktatur, "aber die Regierung trägt eindeutig diktatorische Züge". Typisch dafür sei auch eine intellektuelle Bescheidenheit oder "Primitivität", die der Hochschulexperte unter anderem an mehrfach wiederholten Äußerungen des ungarischen Parlamentspräsident festmacht: Der habe mehrfach gesagt, dass seine Enkelinnen bitte keine Ingenieurinnen oder Ärztinnen werden mögen, sondern Kinder kriegen und ihm ein gutes Essen kochen sollen.

Weltweit rekrutierte Studenten

An der inhaltlichen Ausrichtung mit starkem Fokus auf die Sozialwissenschaften, aber auch an der Herkunft der Studierenden werde sich laut Matei wenig ändern: Rekrutiert wird weiterhin weltweit, und schon bisher kamen nur rund 15 Prozent der Studierenden aus Ungarn. Womöglich wird deren Anzahl auch in Zukunft nicht viel geringer werden.

CEU-Vizerektor Matei fordert einen europäischen Verfassungsschutz für die Freiheit der Wissenschaft.

Was Matei schmerzlich beobachtet, ist die Abwanderung von Wissenschaftern und anderen qualifizierten Personen aus Ungarn, die nicht nur wegen der Vertreibung der CEU dramatische Formen angenommen hat. Fast täglich hört er von Kollegen, die nicht an der CEU tätig sind, dass sie das Land verlassen wollen.

Seine sehr persönliche Geschichte dazu erklärt im Grunde alles: "Vor acht oder neun Jahren maturierte meine älteste Tochter in Ungarn. Sie war damals die Einzige ihrer Klasse, die zum Studieren das Land verließ. Zwei Jahre später, als meine nächstjüngere Tochter ihren Schulabschluss machte, ging etwa die Hälfte ihrer Maturaklasse ins Ausland. Wieder drei Jahre später maturierte mein Sohn. Er blieb als Einziger seiner Klasse noch ein Jahr in Ungarn. Dann verließ auch er das Land." (Klaus Taschwer, 2.8.2019)