Wer sich um die Zukunft der Demokratie in den USA sorgt, denkt meist an Donald Trump, der den Rechtsstaat mit Füßen tritt. Man kann aber auch an Reed O’Connor denken. Das ist jener Bundesrichter in Texas, der Ende 2018 Barack Obamas Gesundheitsreform für verfassungswidrig erklärt hat – mit folgendem Argument: Obamacare sah eine Krankenversicherungspflicht mit einer Strafzahlung für jene Amerikaner vor, die sich nicht versichern.

Die zerschlissene Flagge der USA. Sinnbild für die Justiz der Nation?
Foto: James Leynse

Die Verfassungsklage gegen den Zwang wies der Oberste Gerichtshof 2012 mit fünf zu vier Stimmen ab. Gerichtspräsident John Roberts, ein Republikaner, rettete das Gesetz, indem er die Strafzahlung kurzerhand zur Steuer erklärte – und Steuern dürfe der Kongress einheben.

Diese Abgabe wurde in der Steuerreform 2016 auf null herabgesetzt. Nun folgte eine neuerliche Klage mehrerer republikanisch regierter Bundesstaaten: Roberts’ Rechtfer tigung für die Versicherungspflicht sei gemeinsam mit der Steuer weggefallen, die Bestimmung daher verfassungswidrig. Wenn aber ein Gesetzesteil gegen die Verfassung verstoße, dann gelte das für das ganze Gesetz.

Ideologischer Eifer

Dieser abenteuerlichen Schlussfolgerung folgte Richter O’Connor voll und ganz. Und er dürfte damit nicht allein sein: Bei der Anhörung vor dem Berufungsgericht in New Orleans signalisierten zwei der drei Richter, dass sie das inzwischen höchst populäre Gesetz ebenfalls für verfassungswidrig halten. Was diese Juristen eint: Sie wurden einst von George W. Bush ernannt. Ihr Urteil soll im Herbst ergehen und danach zum Supreme Court mit seiner inzwischen gestärkten konservativen Mehrheit wandern. Dort hängt wieder alles von Roberts ab, der zwar rechts steht, aber seinen Gerichtshof möglichst aus der Tagespolitik heraushalten will. Die übrigen rechten Höchstrichter scheinen hingegen entschlossen, dem verhassten Gesetz den Garaus zu machen – aus ideologischem Eifer, nicht aus rechtlicher Logik.

Früher spielte es keine entscheidende Rolle, welcher Partei ein Bundesrichter nahesteht. Doch seit der Jahrtausendwende werden unter republikanischen Präsidenten nur noch Juristen mit einem erzkonservativen Profil ernannt, die klare Ziele verfolgen: linke Reformen zu stoppen, rechte Politik abzusichern und republikanischen Politikern zu Wahlsiegen zu verhelfen. Für Amerikas Rechte, sei es in der Politik oder in der Justiz, geht es nicht nur darum, Waffenkontrollen, Klimaschutz, Sozialpolitik oder das Recht auf Abtreibung zu verhindern, sondern auch darum, den langfristigen demografischen und gesellschaftspolitischen Trends, die das Land zunehmend nach links rücken, mit allen Mitteln entgegenzuwirken.

Bestätigung durch den Senat

Was vor rund 25 Jahren begann, hat sich in diesem Jahrzehnt beschleunigt. Jeder Bundesrichter, vom Bezirksgericht bis zum Supreme Court, muss vom Senat bestätigt werden. Der republikanische Senatsführer Mitch McConnell verhinderte in den Obama-Jahren unzählige Richterbestellungen, darunter auch – gegen alle politischen Normen – die Ernennung von Merrick Garland zum Höchstrichter. Denn er hätte den linksliberalen Flügel im Supreme Court gestärkt.

Bild nicht mehr verfügbar.

Mitch McConnell verhinderte in den Obama-Jahren unzählige Richterbestellungen
Foto: REUTERS/Eric Thayer

Mit Trumps Hilfe läuft die Maschine nun wie geschmiert. Das Weiße Haus nominiert nur Juristen aus dem ultrarechten Eck. Die wichtigsten Qualifikationen für die lebenslangen Richterposten sind eine radikale Einstellung und ein relativ junges Alter. Ein paar Nominierungen scheiterten, weil Trumps Kandidaten zu offensichtlich für das Richteramt ungeeignet waren. Aber die meisten überspringen die Hürde, allen voran die neuen Höchstrichter Neil Gorsuch und Brett Kavanaugh. Selbst wenn Trump nächstes Jahr abgewählt wird, bleiben seine Richterernennungen ein langlebiges Vermächtnis.

Eingriff in die Demokratie

Rechte Richter beeinflussen nicht nur po litische Inhalte; sie mischen sich auch in die demokratischen Prozesse ein. Begonnen hat es mit der Entscheidung des Supreme Court im Wahlkrimi von Florida im Dezember 2000 zugunsten von Bush gegen Al Gore. Was damals als Ausreißer erschien, hat inzwischen Methode. Ein Gerichtsurteil nach dem anderen dient den Interessen der Republikaner und schwächt die Demokraten.

2010 hob das Höchstgericht die Spendengrenzen für politische Kampagnen auf, die mit Kandidaten nicht direkt kooperieren. Seither ergießt sich eine Flut von Geldern von Konzernen und Interessenverbänden in die ohnehin schon teuren Wahlkämpfe, viel davon zugunsten rechter Politiker.

Voting Right Act

2013 hob der Gerichtshof zentrale Bestimmungen des Voting Right Act auf, mit dem 1965 das Wahlrecht für Schwarze in den Südstaaten gesichert wurde. Die Bundesregierung müsse diese Staaten nicht mehr auf Rassendiskriminierung überprüfen, hieß es in der Begründung. Doch seither werden unter dem Vorwand, man müsse Wahlbetrug verhindern, in republikanisch dominierten Staaten Schwarze und Latinos systematisch vom Wählen abgehalten; sie müssen Dokumente vorlegen, die Geringverdiener oft nicht besitzen. Die Gerichte stoppen nur die krassesten Fälle von Diskriminierung.

In der jüngsten Causa entschied der Su preme Court Ende Juni erneut mit fünf zu vier Stimmen, dass Gerrymandering, die Verschiebung von Wahlbezirken zur Stimmenoptimierung für eine Partei, selbst in extremsten Fällen nicht gegen die Verfassung verstößt. Das ist ein Freibrief für eine Praxis, die im vergangenen Jahrzehnt vor allem von Republikanern betrieben wurde.

Vorteile für Republikaner

Die strukturellen Vorteile der Republikaner in der US-Politik sind schon jetzt massiv, vor allem im Senat. Jedem Bundesstaat stehen zwei Senatoren zu, und weil die besondern dünn besiedelten Staaten konservativ wählen, sind Republikaner dort deutlich überrepräsentiert. Im Repräsentantenhaus profitiert die Partei wiederum von der Tatsache, dass demokratische Wähler in urbanen Wahlkreisen konzentriert sind, was einzelnen Abgeordneten zu riesigen Mehrheiten verhilft, aber anderswo die Stimmen fehlen. Gerrymandering verstärkt diesen Trend.

Auch in dem für Präsidentenwahlen entscheidenden Wahlmännerkolleg haben diese Staaten mehr Einfluss; eine Stimme in Wyoming, das stets rechts wählt, hat 3,6-mal mehr Gewicht als eine im liberalen Kalifornien. Es gibt zwar Reformvorschläge für diesen Wahlmodus, aber die erhalten – wenig überraschend – Unterstützung nur in demokratisch dominierten Bundesstaaten.

Wo bleibt der Wählerwille?

Da der Senat für Richterbestellungen zuständig ist und immer mehr Richter ihr Amt nutzen, die Republikaner zu fördern, droht eine Situation, in der Wahlen nicht mehr den Wählerwillen widerspiegeln und eine Minderheit permanent über eine Mehrheit regiert. Ansätze dafür gibt es bereits: Trump erhielt 2016 deutlich weniger Stimmen als Hillary Clinton, im Kongress brauchen die Demokraten mehr Wählerstimmen als Republikaner, um eine Mehrheit an Sitzen zu erringen. Die amerikanische Demokratie wird ausgehöhlt, die wichtigsten Grundfeste der Nation untergraben.

Aber was geschieht, wenn immer mehr Menschen erkennen, dass sie die Politik nicht mehr mitbestimmen können? Die Folgen dieser "Verschwörung gegen Amerika" – so der Titel eines dystopischen Romans von Philip Roth aus dem Jahr 2004 – lassen sich heute erst erahnen. (Eric Frey, 3.8.2019)