Sebastian Kurz und Elisabeth Köstinger (beide ÖVP) bei einer Wahlkampfveranstaltung

Foto: APA/Schlager

Es sei "unfassbar übler Dreck", "irre" oder "die nächste Schmutzkübelattacke auf Sebastian Kurz" sowie "tief und crazy". Solche Tweets sahen vergangenes Wochenende alle, die auf Twitter ÖVP-Funktionären folgen, etwa – in der Reihenfolge der Zitate – dem Generalsekretär Karl Nehammer, Rupert Reif aus der Presseabteilung oder dem Wiener Klubobmann Manfred Juraczka. Schon einen Tag zuvor hatte die ÖVP begonnen, bei Medien anzurufen und diese auf eine äußerst bizarre Webseite hinzuweisen, auf der Sebastian Kurz "angepatzt" werde.

Ohne die Intervention der Volkspartei wäre der Blog vermutlich nur einer Handvoll Personen untergekommen – und die hätten wohl schnell erkannt, dass als Autor ein extremer Antisemit am Werk ist, der unter anderem behauptet, dass die Wiener Grünen Menschenfleisch essen. Die "Vorwürfe", die der Blog gegen Kurz vorbringt, spielen in derselben Liga – und stellen Kurz eigentlich als Opfer eines furchtbaren Verbrechens dar. Das nie passiert ist. Warum versucht die ÖVP also mit aller Kraft, diese Seite bekannt zu machen?

Klar ist, dass sie in ihrem Wahlkampf auf die Inszenierung von Sebastian Kurz als Opfer setzt. Dieser wird, weil er zu populär ist, von allen Seiten "mit Dreck beworfen", weshalb sich seine Anhänger noch stärker engagieren müssen. Das ist eine bekannte Strategie, um Unterstützer zu mobilisieren, die schon der einstige FPÖ-Obmann Jörg Haider perfektioniert hat. "Er will etwas Gutes für uns, also soll er von 'denen' zerstört werden", so die Politikwissenschafterin Natascha Strobl in einem STANDARD-Gastbeitrag über diese Strategie.

Standard/Aydogdu

Das Motiv für das ständige Zurschaustellen von vermeintlichen, dubiosen oder tatsächlichen Angriffen auf Sebastian Kurz könnte aber auch ein anderes sein: nämlich die Zerstörung des Diskurses, indem dieser mit Informationen überflutet wird. Dabei handelt es sich um ein Propagandakonzept, das in der Forschung als "Feuerwehrschlauch der Desinformation" bekannt ist und ab Mitte der 2000er-Jahre von Russlands autoritärem Führer Wladimir Putin perfektioniert worden ist.

Nutze alle Kanäle

Dazu muss man sich vor Augen führen, dass das menschliche Gehirn nicht so klug ist, wie man meinen will. Natürlich: Wenn sich Menschen auf eine Sache konzentrieren, können Meisterleistungen entstehen und komplexe Sachverhalte verstanden werden. Aber gemeinhin versucht der Mensch, ohne allzu viel nachzudenken durchs Leben zu navigieren – alles andere wäre auch nicht zu bewältigen. Daher nutzt das Gehirn verschiedene Abkürzungen und Strategien, um mit großen Mengen an Informationen umzugehen, die nicht als extrem wichtig eingeschätzt werden.

Aus der Kommunikationsforschung weiß man, dass Menschen Informationen als wichtiger und glaubwürdiger einstufen, wenn sie aus vielen verschiedenen Quellen statt aus einer einzigen stammen. Das ist besonders dann der Fall, wenn Personen abgelenkt sind. Dies testeten US-amerikanische Forscher schon im Jahr 1981, indem sie in einem Experiment von mehreren oder einem Sprecher Argumente vortragen ließ, während eine Gruppe ruhig zuhören durfte, die andere dabei Rätsel lösen musste.

In der Ära der Ablenkung, in der man Nachrichten meist nebenbei am Smartphone konsumiert, heißt das, dass man auf mehrere Kanäle setzen sollte, um eine Botschaft unterzubringen: Beispielsweise auf Boulevardmedien, offizielle Twitter-Accounts, parteinahe Medien sowie auf Unterstützer, die eine Information möglichst gleichzeitig teilen. Zurück zum vergangenen Wochenende, wo parallel in vielen Medien und aus vielen Quellen in sozialen Medien zu lesen war, es gäbe einen Blog, der Sebastian Kurz "tief und crazy" angreift. Dass dieser Blog alle Politiker gleichermaßen angreift und eindeutig absurde Inhalte publiziert, wurde erst im Nachhall durch weniger Stimmen verbreitet. Die ÖVP konnte also ihren "Spin" platzieren.

Präsentiere "Beweise"

Dasselbe gilt bei der Causa rund um angeblich gefälschte E-Mails zwischen dem einstigen Kanzleramtsminister Gernot Blümel und Sebastian Kurz. Sofort nach der ersten Anfrage eines eher obskuren Blogs, ob diese echt seien, berief die ÖVP eine Pressekonferenz ein. Man habe die abfotografierten E-Mails und die übermittelten technischen Daten extern prüfen lassen und eine Fälschung entdeckt, hieß es. Dass selbst die Prüfer von Deloitte angaben, die Echtheit der E-Mails mit den verfügbaren Informationen nicht vollends widerlegen zu können, ging in der allgemeinen Erregung unter. Mit dem IT-Chef der ÖVP durften Journalisten bisher nicht reden.

Auch hier hat die ÖVP – aus der Perspektive eines Propagandisten – goldrichtig gehandelt. Wichtig ist, irgendeine Form von "Beweis" oder Details vorzuweisen, um ein Narrativ im Gehirn der Wähler zu verankern. Bei den Wählern war das etwa, dass ihr Zeitstempel nicht mit dem Inhalt übereinstimmte. Aus der Gerichtsforschung weiß man, dass Geschworene eher Zeugen glauben, die sich an vermeintlich unwichtige Details erinnern.

Sei immer der Erste

Ein zweiter wichtiger Aspekt: Die ÖVP konnte unter hoher medialer Aufmerksamkeit bekanntgeben, dass "gefälschte E-Mails" im Umlauf sind. Sollten sich die E-Mails doch als wahr entpuppen (wofür es keine Hinweise gibt) oder sollten echte E-Mails auftauchen, dann ist die ÖVP im Vorteil. Denn das "Umdrehen" einer Information ist äußerst schwierig. Außerdem weiß man aus der Forschung, dass Menschen, wenn sie wenige neue Informationen verarbeiten müssen, eher Experten vertrauen – bei einer "hohen Lautstärke" hingegen ihrer sozialen Gruppe, beispielsweise anderen Anhängern und Politikern ihrer Partei. Im Stakkato der Breaking News ist eine "geringe Informationslautstärke" zur absoluten Seltenheit geworden.

Sei "in der Mitte"

Auch für andere klassische Propagandatechniken lassen sich Hinweise finden – etwa für die Technik des "Whataboutism" beziehungsweise der "falschen Äquidistanz". Man erinnere sich etwa daran, dass Sebastian Kurz noch als Kanzler die Fahnen der kurdischen PKK am Tag der Arbeit thematisierte, um eine Verbindung zwischen Linksextremismus und der SPÖ herzustellen – während zuvor wochenlang zahlreiche Fakten über die Nähe seines Koalitionspartner FPÖ mit der rechtsextremen Identitären Bewegung ans Tageslicht kamen.

Ein Beispiel dafür lieferte auch US-Präsident Donald Trump, als er nach einem von Neonazis verübten Terroranschlag mit einem Todesopfer davon sprach, dass auch die Gegendemonstranten gewalttätig gewesen seien. Es gäbe gute Menschen "auf beiden Seiten", so Trump damals. Diese Techniken, die großteils von Militär und Geheimdiensten entwickelt wurden, sind nicht neu. Bis vor wenigen Jahren schafften sie es aber kaum in den politischen Mainstream demokratischer Länder. Mittlerweile sind sie dort omnipräsent.

Lege einen Köder

Egal ob Trump, die Brexiteers oder Bolsonaro: Meist rechtsgerichtete Politiker zögern immer weniger, in diese Trickkiste zu greifen. Soziale Medien verstärken die Effektivität derartiger Methoden in ungeahnter Art und Weise. Auch weil sie verschleiern, ob hinter den Aktionen Parteien oder deren Fans stecken – oder, im Extremfall, sogar deren Gegner, die unter falscher Flagge agieren.

Eine beliebte Methode aus der sowjetischen Trickkiste, die perfekt ins Zeitalter von Twitter und Co passt, ist etwa die "reflexive Kontrolle": Man legt heimlich einen Köder aus, weil man weiß, wie die Zielperson reagiert – und kommt so zum gewünschten Ziel.

Zu beobachten ist, dass sich immer weniger politische Parteien an die "Regeln" eines fairen Wahlkampfs halten. Die FPÖ hat das Fluten mit Meldungen zweifelhaften Wahrheitsgehalts perfektioniert, etwa über reichweitenstarke Social-Media-Konten, Blogs wie unzensuriert.at und im Zusammenspiel mit Krone.at.

In Österreich hat zum Herabsenken des Niveaus freilich auch die SPÖ beigetragen, die im letzten Nationalratswahlkampf erneut den israelischen Politikberater Tal Silberstein engagierte, der Dirty Campaigning testen wollte. Dass dieser Name mittlerweile zu einem Synonym für üble Tricks geworden ist, kann übrigens selbst als übler Trick bezeichnet werden. Die ständige Wiederholung, egal mit welchem Wahrheitsgehalt oder in welchem Kontext, sorgt selbst bei kritischen Menschen für eine unterbewusste Einprägung des Wortes.

Das Dauerfeuer an aufgeladenen Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unwahrheiten kann für den Diskurs langfristig verheerende Konsequenzen haben. Schon jetzt ist zu beobachten, dass Sachthemen kaum noch durchdringen. Das dürfte dazu führen, dass das Vertrauen in das politische System absinkt. Davon profitieren dann der aktuelle Machthaber oder Akteure, die in Skandale verwickelt waren. Oder, wie es zuletzt in einer Boulevardzeitung über die ÖVP hieß: "Schreddern, Koks und andere üble Gerüchte." (Fabian Schmid, 3.8.2019)