Nicholas Hilmy Kyrgios hatte vor allem beim Turnier in Washington gut lachen. Im Finale bezwang der den Russen Daniil Medwedew

Foto: USA TODAY Sports/Geoff Burke

Vorhang auf! Nick Kyrgios betritt die Bühne fast immer gleich: Die Tennistasche ist auf den Rücken geschnallt, sein Gesicht verschwindet unter den großen Kopfhörern, der Blick strahlt Gelassenheit aus. Vielleicht Gleichgültigkeit, so genau weiß man das beim australischen Tennisprofi nicht. Genau weiß man auch nicht, was einen erwartet, wenn Kyrgios Tennis spielt. Seine Matches sind wie eine Sneak-Preview, eine Überraschungspremiere im Kino. Meistens gibt es Action, fast immer Drama, auf jeden Fall aber Entertainment.

Der 24-Jährige ist vielleicht der letzte Entertainer in einem Sport, der noch immer vor einer Etikette kniet, die Individualität ausgrenzt und das Normale, das hart arbeitende Brave vor das Unkonventionelle stellt. Das Drehbuch ist geschrieben, und Ausreißer werden nicht gerne gesehen. Kurz: Tennis ist eigentlich zum Schreien bieder. Seit mehr als 15 Jahren gewinnen auch noch immer die gleichen drei Spieler (Federer, Nadal, Djokovic).

"Seid ihr nicht unterhalten?", rief Kyrgios, 27. der Weltrangliste, vergangene Woche beim Turnier in Washington ins Publikum. Der Australier gewann den Auftakt gegen Thai-Son Kwiatkowski sicher, marschierte bis ins Finale und holte sich gegen den Russen Daniil Medwedew seinen sechsten Titel auf der Tour.

Kyrgios ist viel, Kyrgios ist laut und immer irgendwo zwischen Lausbub, Grantscherm und Motivator. In Washington zeigte er sein ganzes Repertoire, und das ist neben hervorragendem Tennis vor allem eins: eine Show. Halbfinalgegner Stefanos Tsitsipas brachte er neue Schuhe, bei Wutausbrüchen schleuderte er Wasserflaschen und Schläger. Gegen den Japaner Yoshihito Nishioka deutete er einen Aufschlag von unten an, um dann doch normal zu servieren.

Erwischt

Mit der Konvention des Überkopf-Services hat Kyrgios schon länger gebrochen, immer wieder überrascht er mit einem Aufschlag von unten: "Es ist ein probates Mittel, vor allem, um den Gegner aus dem Rhythmus zu bringen." Das sorgt für Diskussionen im sonst so gemächlich dahintrottenden Tenniszirkus.

Kyrgios wurde in Canberra, Australien, geboren. Sein Vater ist Grieche, seine Mutter Halbmalaysierin. Als 14-Jähriger entschied er sich für die Tenniskarriere. Auch Basketball stand im Raum. Noch heute wirft er manchmal lieber Körbe, als Bälle zu schlagen. Auf der großen Bühne machte Kyrgios erstmals 2014 auf sich aufmerksam, als er im Wimbledon-Achtelfinale Rafael Nadal bezwang. Eine große Zukunft wurde ihm vorhergesagt. Da kannte man den früher pummeligen Bub aus Canberra aber noch nicht.

"Wir wissen alle, wie er spielen kann, wenn er spielen will. Und diese Woche wollte er spielen", sagte der unterlegene Washington-Finalist Medwedew nach dem Spiel am Sonntag. Kyrgios grinste wie ein Schüler, der beim Schummeln erwischt wurde.

Sein Tennis kann außergewöhnlich sein, die Vorhand peitscht mit Kraft und Präzision, das Service ist nach seiner Unberechenbarkeit die zweitgrößte Waffe. Bei 193 Zentimeter Körpergröße kein Wunder. Als Gegner weiß man nicht, was kommt: Grundschläge werden eingesprungen, es gibt fast kein Match ohne Tweener (Schlag durch die Beine), Stoppbälle aus unmöglichen Positionen und zweite Risikoaufschläge – Tennis direkt aus einem Actionfilm.

Wenn der Rechtshänder scheitert, dann scheitert er an sich selbst oder daran, dass er zu viel Show will. Das weiß er auch: "Wenn ich so arbeiten würde wie andere Spieler, hätte ich wohl schon ein paar Grand Slams gewonnen. Aber das bin nicht ich. Am Ende des Tages will ich einfach Spaß haben", sagt er in einem Podcast-Interview.

Am wenigsten Spaß hat er auf Sand: "Das ist der Belag, der am wenigsten Kreativität fordert. Aber es ist ein großer Teil der Saison, ich muss mich besser darauf einstellen." Mehr Freude bereitet ihm hingegen das Internet, seine Tweets sorgen immer wieder für Aufregung: "Ich sitze dann am Abend auf dem Bett und lache. Alles, was ich schreibe, geht sofort durch die Decke."

Bilanz oder Maschine

Gegen die "Big 3", also Federer, Nadal und Djokovic, hat Kyrgios erst seit Wimbledon 2019 wieder eine negative Bilanz. Sechs Siegen stehen gerade einmal sieben Niederlagen gegenüber. Wie das geht? "Alle haben riesigen Respekt vor ihnen. Das verstehe ich nicht. Warum muss ich vor Ehrfurcht erstarren, nur weil einer von ihnen da drüben steht? Ich gehe einfach auf den Platz und spiele mein Spiel. Abseits des Tenniscourts habe ich großen Respekt, aber auf dem Platz nicht."

Immer wieder wird Kyrgios durchs Dorf getrieben. "Bad Boy" sagen manche, "respektlos" andere. Manchmal wirkt er aufreizend lustlos, schenkt ganze Matches her. Die Liste von Eskapaden ist lang – für viele zu lang im Vergleich zu den Erfolgen. Beim 1000er-Turnier im Mai in Rom legte er sich mit dem Publikum und dem Schiedsrichter an und wurde disqualifiziert.

Kyrgios ist das egal. Überhaupt nimmt sich der Australier nicht ganz so ernst, wie das erwartet und gefordert wird. "Ich respektiere jeden, der Tag für Tag versucht, der beste Tennisspieler zu sein. Ich bin so nicht." Kyrgios ist keine Maschine, kein Nadal, kein Federer und auch kein Dominic Thiem, die alles dem Erfolg unterordnen, auch auf die Gefahr hin, in der Verbissenheit das Menschliche einzubüßen. Wenn der Vorhang hinter Kyrgios fällt, waren da (noch) nicht die großen Titel, aber sicher war es eine Show. (Andreas Hagenauer, 5.8.2019)