Als es die Masse machte: Essen war in den Kindheitsjahren von uns Babyboomern das Tor zum Paradies.

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In den so sehr genussfreudigen Jahren der Ära Kreisky zeigte man sich gegenüber jeder Form der Gewichtszunahme strikt aufgeschlossen. Besuchte zum Beispiel eine dreiköpfige Familie ein biederes Landgasthaus, so ruhte der Wirt nicht, bis er die Sippe erfolgreich zum gemeinsamen Verzehr einer Hausplatte angestiftet hatte.

Hinter diesem kaum Argwohn erweckenden Namen verbarg sich ein desaströses Allerlei. Auf einer Landschaft von Pommes Frites und Krautsalat dampften handtellergroße Stücke gebratenen und frittierten Schweins. Innereien grüßten von den Gipfeln herab. Kein Wunder, dass Eltern, aber auch Onkel und Tanten sehr bald Jahresringe vor sich herschoben wie ausgediente Sumo-Ringer.

Stolz erzählten einander die Blutsverwandten von ihren Heldentaten: wie sie mit Messer und Gabel die Spuren anonym gebliebener Tiere vom Erdboden getilgt hatten. Man glaubte, diese Veteranen ungehemmter Fresslust berichteten von legendären Landschlachten, etwa von Napoleons Sieg über Österreichs Heer bei Deutsch-Wagram. Tatsächlich ereigneten sich einige dieser überlieferten Massaker auch wirklich im Marchfeld.

Pumpen eines Kreislaufs

Als natürliche Folge stellte sich, notabene in einem katholischen Land wie dem unseren, schlechtes Gewissen ein. Als zufriedener Babyboomer bemerkte ich fassungslos die Trauer meiner Mutter, wenn sie an den Schaufenstern irgendwelcher Modehandlungen mit verfinsterter Miene vorüberschritt. Bald schon glaubte ich, das Pumpen eines Kreislaufs zu bemerken.

Mamas wachsender Frust entlud sich stoßweise, indem sie unsere stets reichlich gefüllte Brotlade plünderte. Umgekehrt begann während langer Nächte ihre Singer-Nähmaschine zu summen.

Beim Einkauf fröhlich gemusterter Stoffe spielte ich gerne den Berater. Meterweise wurden die Erzeugnisse der Webkunst über den Küchentisch gebreitet. Schnittmusterbögen, durch raschelndes Seidenpapier zum Leben erweckt, bildeten mit ihrem Linien-Wirrwarr eine Kartographie des Unglücks.

Über Mutters Besuche im Zuckerlgeschäft bewahrte ich hingegen eisernes Stillschweigen. (Ronald Pohl, 7.8.2019)