Vom Apokryphen über das Abseitige zur Avantgarde: Umberto Eco war ein Meister darin, aus dem Zeichenwirrwarr Zusammenhänge zu basteln.

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Vor zwanzig Jahren nahm die von Elisabetta Sgarbi konzipierte und bis heute geleitete La Milanesiana ihren Anfang. Das Spektrum der Kulturwochen in Mailand, die zwischen Anfang Juni und Ende Juli stattfinden, reicht von öffentlichen Debatten über Ökonomie bis zu Konzerten, Kunstausstellungen und Dante-Lesungen. Jeder Jahrgang ist unter ein ausgesuchtes Schlagwort oder spezifisches Thema gestellt. 2019 ist es "Speranza", die Hoffnung. Als Vortragende gewonnen wurden heuer der US-amerikanische Romancier Richard Powers, Tahar Ben Jalloun, der Grenzgänger zwischen Frankreich und Marokko, und jener französische Autor, der als "Antoine Volodine" und unter drei anderen Pseudonymen zahlreiche, auch preisgekrönte Bücher publiziert hat.

Bereits als das Festival auf Konzeptpapier existierte, verpflichtete Signora Sgarbi den bis zu seinem Tod am 19. Februar 2016 bekanntesten Intellektuellen Mailands (ja, Italiens) für den Festvortrag. Sein Name? Umberto Eco. Seine Profession: die Omniszienz, Allwissen- und Belesenheit. Zumindest was abendländische Geistes-, Philosophie- und Zeichengeschichte von der Antike über das Mittelalter bis zum späten 20. Jahrhundert anging.

PR-Coup der Sonderklasse

2001 hielt Eco die erste Rede, passend Auf den Schultern von Riesen betitelt. In den folgenden Jahren dachte er als Rhetor nach über: Schönheit, Hässlichkeit, das Unsichtbare, die Lüge; das Paradoxe, Unvollkommenheit, Geheimnis, Konspirationen; Relativismus, das Unsichtbare sowie die Flamme (in jenem Jahr war das Motto "Die vier Elemente" und Eco ja Autor des Romans Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana).

Diese zwölf Ansprachen – die letzte hielt er 2015, ein halbes Jahr vor seinem Tod – erschienen gedruckt 2017 bei La nave di Teseo, jenem Mailänder Verlagshaus, das Eco 2015 mitgegründet hatte (zusammen übrigens mit Elisabetta Sgarbi, die La nave als Direktorin vorsteht). Beide, sie als Lektorin, er als Autor, hatten sich zuvor mit Aplomb vom Verlag Bompiani verabschiedet.

Es war ein PR-Coup der Sonderklasse, den Ordinarius für Semiotik, die Lehre von den Zeichen, aus der Universität Bologna, den öffentlichen Intellektuellen als gelehrten Festredner zu gewinnen. Umberto Ecos Kolumne La bustina di Minerva erschien ab 1985 dreißig Jahre lang in L'Espresso, auf Deutsch liegen mehrere Auswahlbände der Streichholzbriefe vor. Er war Kommentator von Apokalyptikern und Integrierten, Interpret der Massenkultur, von Comics und Derrick wie mittelalterlicher Philosophie, von Kant und Joyce; ein Bibliomaner und unersättlicher Leser.

Und all dies touchierte er auch in diesen Reden, die essayistisch von Catull bis Casablanca, von Wilhelm von Ockham bis Padre Pio mäandern. Nicht selten fragt man sich, wie zugänglich und wie verständlich seinem sommerlichen Auditorium vorgekommen sein muss, was er explizierte. Etwa wenn er über den hesperischen Wortschatz nachsann, über Virgilius Grammaticus' Epitomae, wenn er Thomas Aquinas, Schmähreden des fünften Jahrhunderts oder Aldhelm von Malmesbury auf Latein zitierte.

Ecos Hang zu Variationen

Allerdings durchzieht jeden Vortrag ein aktueller roter Faden. So geht es zwischen Apokryphem, Abseitigem und Avantgarde eben auch, und durchaus entschieden, um Rassismus und Migration, um Lügen und politische Propaganda, Verschwörungsmythen und die eitle Selbststilisierung von Akteuren des öffentlichen Raums.

Der Band ist eine zugängliche und gut übersetzte, mit vielen Farbabbildungen ausgestattete Einführung in Ecos Denken und Deuten. Zugleich sieht man da und dort aber auch, und von Jahr zu Jahr akzentuierter, dass sehr ähnliche, ja sogar identische Argumentationsketten auftauchen, dass Eco nahezu dieselben Namen zitierte mit erstaunlich übereinstimmenden Auszügen.

In der einleitenden editorischen Notiz wird das vornehm als Leitmotiv eingestuft, nicht als Wiederholungen. Doch genau darum handelt es sich. Ist es angesichts der Fülle des sich auf so vielen Feldern, von der Wissenschaft über umfangreiche Romanepopöen, so rege tummelnden Italieners nicht verständlich, dass er auf erprobte Satz- und Denkbausteine zurückgriff oder diese sacht variierte? Für sein Lesepublikum, das nicht so leichtfüßig wie er von der Uta-Statue im Naumburger Dom zu Dom Pernetys abseitigem Dictionnaire Mytho-Hermétique von 1758 bis zu Nam June Paik zu tänzeln vermag, eine kleine psychobildungshistorische Entlastung: Auch Eco, der Wissensriese und Besitzer von 28.000 Büchern, ließ sich gelegentlich auf denselben Schultern derselben Riesen nieder. (Alexander Kluy, 8.8.2019)