Nigerias Sicherheitskräfte sind machtlos gegen Boko Haram.

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Die Boko-Haram-Sekte beging ihren Jahrestag vergangene Woche auf ihre Weise. Zehn Jahre nach der Ermordung ihres Gründers Mohammed Yusuf, die den Startschuss für die Radikalisierung der Gruppe gab, griffen Kämpfer der nigerianischen Terrorgruppe eine Trauergemeinde im Dorf Budu nahe der Provinzhauptstadt Maiduguri an. Sie eröffneten das Feuer und töteten auf Budus Friedhof 65 Menschen. Der 38-jährige Hassan Ahmadu wurde am Oberschenkel und an der Schulter getroffen: Fünf Mitglieder seiner Familie starben im Kugelhagel.

Könnte man den Worten der Regierung in Abuja Glauben schenken, wären derartige Angriffe schon seit Jahren nicht mehr möglich. Präsident Muammar Buhari hatte die Killersekte schon 2015 für "technisch besiegt" erklärt: Für ihre Vernichtung seien nur noch kleine "Säuberungsaktionen" nötig. Buharis Behauptung hat sich längst als plumpe Schönrederei erwiesen. Seit Beginn dieses Jahres nehmen die Angriffe wieder zu, Monat für Monat fallen der Sekte hunderte Menschen – Soldaten, Extremisten und Zivilisten – zum Opfer. In den zehn blutigen Jahren des Konflikts verloren fast 30.000 Nigerianer ihr Leben, zwei Millionen mussten fliehen.

Schleichende Radikalisierung

Die Transformation der obskuren Sekte zur mörderischen Terrorgruppe spielte sich vor zehn Jahren in der Provinzhauptstadt Maiduguri ab. Zunächst waren die Jünger des radikalen Predigers Mohammed Yusuf nur mit ihren Forderungen nach einem Ende der Herrschaft korrupter Politiker, der Einführung einer strikten Form des Scharia-Rechts sowie der Wiederherstellung des 1000 Jahre alten Kanem-Bornu-Reiches aufgefallen. Doch allmählich gingen die "Taliban Nigerias" auch zu Angriffen auf Polizeistationen und Regierungsgebäude über. Im Sommer 2009 schlugen die Sicherheitskräfte brutal zurück: Bei ihrem Gegenangriff kamen innerhalb weniger Tage mehr als 1000 Menschen um. Unter ihnen auch Mohammed Yusuf, den Polizisten exekutierten.

Mit Yusufs Stellvertreter Abubakar Shekau setzte sich ein wesentlich militanterer Hitzkopf an die Spitze der Organisation, die nun zu immer blutigeren Übergriffen, zu Selbstmordattentaten und Bombenanschlägen selbst in der Hauptstadt Abuja überging. Innerhalb weniger Jahre gelang es der Sekte, ganze Landstriche unter ihre Kontrolle zu bringen. Als Shekau 2014 das Islamische Kalifat Westafrika ausrief, war dessen Gebiet so groß wie Belgien und erstreckte sich auch über Teile der Nachbarstaaten Niger, Tschad und Kamerun.

Mit Militäraktionen gelang es den Nachbarstaaten, die Sekte wieder zurückzudrängen: Shekau zog sich mit seinen Kämpfern in den Sambisa-Wald zurück. Dort kam es zu einer Spaltung: Abu Musab al-Barnawi, ein Sohn des Sektengründers Yusuf, setzte sich ab und gründete den "Islamischen Staat Provinz Westafrika" (Iswap). Abu Musab war die Taktik Shekaus zuwider, der selbst zehnjährige Mädchen zu Selbstmordattentaten zwang. Die Iswap-Kämpfer, die vor allem von der Vierländerregion am Tschadsee aus operieren, richten ihre Schläge gegen Sicherheitskräfte: Sie sollen über enge Kontakte nach Libyen sowie in die Unruheregion zwischen Burkina Faso und Mali verfügen. Terrorexperten sehen in Iswap eine wesentlich größere Gefahr: Zehn Jahre nach der Ermordung Yusufs ist dessen Geist lebendiger als je zuvor. (Johannes Dieterich, 8.8.2019)