Foto: Small Beer Press

Es lohnt sich mitunter wirklich, einfach mal auf gut Glück zum Kurzgeschichtenband eines Autors zu greifen, von dem man noch nie gehört hat und der einem auch nirgendwo als der neuste heiße Scheiß aufgedrängt wird – und sich dann in aller Ruhe auf dessen Art zu erzählen einzulassen. Auf diese Weise habe ich unter anderem den herrlich trockenen Humor des Cherokee-Autors William Sanders und die traumartigen Bilder, die ein Jason Sanford heraufzubeschwören vermag, kennengelernt. (Sorry, dass die Links nicht mehr direkt zum Buch führen; bei Sanders muss man einmal weiterklicken, bei Sanford dreimal.)

Als solcher Fall hat sich nun auch die aus Indien in die USA gekommene Autorin Vandana Singh entpuppt, die uns mit dem Sammelband "Ambiguity Machines" – bereits ihrem zweiten – die Evolution einer bemerkenswerten Stimme demonstriert. 14 Geschichten aus den Jahren 2009 bis 2018 sind hier enthalten. Eine davon – "Requiem" – wurde erstmals in diesem Band veröffentlicht und ist zugleich eine der besten. Singh zeichnet darin das stimmungsvolle Bild einer Arktis im Wandel, nachdem es zum Big Melt gekommen ist. Und obwohl alle Geoengineering-Maßnahmen gegen den Klimawandel versagt haben, wird schon wieder nach Öl und Gas gebohrt.

Blicke in die Welt von morgen

Ebenfalls in der nahen Zukunft ist das ultragrimmige "Are You Sannata3159?" angesiedelt. In einem Szenario, halb "Schöne neue Welt", halb "Soylent Green", erheben sich die Türme des elitären Upside über wuchernden Slums. Wer dort lebt, kann nur hoffen, einen Job im neuen Schlachthaus der Stadt zu bekommen – wo man den Mitarbeitern aus gutem Grund einen "Proteindrink" einflößt, der sie alles durch die rosa Brille sehen lässt.

Möglicherweise dieselbe Welt bildet auch den Hintergrund von "With Fate Conspire", dessen Erzählerin Gefangene eines Experiments ist. Gargi hat keinerlei Bildung, ist aber gut mit einer Maschine kompatibel, mit der man in die Vergangenheit schauen kann. Gargi verschweigt den Experimentatoren allerdings, dass sie sie an den falschen Ziel-"Ort" geschickt haben. In welchem Zusammenhang das alles steht, wird uns Singh erst ganz langsam, Schicht für Schicht enthüllen: eine Taktik, die sie in fast allen ihren Erzählungen meisterlich umsetzt.

Fantastische Weltraum-Szenarien

Singh bewegt sich quer durch die Subgenres der Phantastik – wenn man will, kann man die Erzählungen in "Ambiguity Machines" entsprechend gruppieren. Zu den tendenziell düsteren Near-Future-Plots kommen dann etwa die Space Operas. Wie "Sailing the Antarsa", dessen Protagonistin von einer Pandora-artigen Welt stammt, in der alles mit allem biologisch vernetzt ist. In ihrem Raumschiff – eigentlich der Kapsel einer riesigen Pflanze – bricht die Pionierin in die Galaxis auf, um dort auf ein universales Netz von altmatter-Lebensformen (möglicherweise ist Dunkle Materie gemeint) zu stoßen. Ein Plot wie bei Stephen Baxter, nur poetischer umgesetzt.

Enigmatisch gestaltet sich "Lifepod", dessen Erzählerin an Bord einer Alien-Rettungskapsel festsitzt und Teil eines geistigen Netzwerks geworden zu sein scheint. Wenn sie die Träume anderer an Bord "belauscht", kann sie nicht mehr unterscheiden, ob es sich um deren Gedanken handelt, um ihre eigenen – oder gar um die der Aliens, von denen sie alle entführt worden sind. Faszinierend auch "Oblivion", eine Rachegeschichte, deren Erzähler/Erzählerin einen Massenmörder quer durch eine Galaxis voller transhumaner Existenzen verfolgt. Ein geradezu mythischer Atem durchweht diese fantastische Welt – auch, aber nicht nur wegen ihrer Bezüge zum indischen Epos Ramayana.

"Wake-Rider" hingegen zeichnet ein schwärzeres Bild der fernen Zukunft. Die Herrschaft der Konzerne hat sich hier auf den Kosmos ausgeweitet, ganze planetare Kulturen werden durch eine Nano-Pest ausgelöscht und die Menschen zu Konsumzombies gemacht. Das Motiv von "Are You Sannata3159?" klingt hier noch einmal an – man könnte die beiden Erzählungen durchaus in eine Zeitlinie derselben Future History stellen.

Ein Hauch "1001 Nacht"

Obwohl "Ambiguity Machines" in erster Linie eine Science-Fiction-Sammlung ist, hat Singh auch eine Prise Fantasy eingestreut. "A Handful of Rice" etwa, angesiedelt in Hindustan, bevor sich das britische Empire den ganzen Subkontinent unter den Nagel gerissen hat, weist dezente Steampunk- und Magieelemente auf. Und "Cry of the Kharchal" geistert buchstäblich an der Grenze von Fantasy und Horror herum. Hier erwartet ein kleines Figurenensemble – Gäste und Belegschaft eines abgeschiedenen Hotels in Indien – die Rückkehr einer Magierin aus dem Reich der Toten.

Each life like a ripple, spreading out, changing as it met other ripples, other lives. Some circles die away quickly, others expand into larger circles. A minor character in one story becomes the lead in another. We are all actors on shifting stages. We contain one another, heißt es in "Cry of the Kharchal". Singh legt damit ihre Erzählstrategie offen, nämlich stets Geschichten in Geschichten zu verpacken und von einer erzählerischen Ebene auf die nächste zu wechseln. Nicht von ungefähr enthalten viele der Geschichten hier auch das Motiv von einem Ding, das in einem anderen versteckt worden ist. Wer "Ambiguity Machines" aufmerksam liest, wird es überall wiederfinden – ob es sich nun um ein U-Boot handelt, das im Rumpf eines Schiffs verborgen war, oder um eine Wahrheit, die von einer anderen Wahrheit verhüllt wurde.

Zugegeben, ein-, zweimal hat mich Singh mit ihrer Strategie des erzählerischen Spurwechsels unterwegs verloren, weil ich ganz gerne auf dem ursprünglichen Gleis geblieben wäre. Insgesamt aber eine atemberaubende Fahrt.