Seit einem halben Jahr gehen die Algerier allwöchentlich zu Tausenden auf die Straße. Dabei wird auch oft die Berberflagge geschwenkt – ein Dorn im Auge der Staatsgewalt.

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Der aufsehenerregende Prozess gegen Nadir Fetissi endete am Donnerstag mit einem symbolträchtigen Freispruch. Ein Gericht in Annaba im Osten Algeriens wies die Anklage der Staatsanwaltschaft gegen den 41-Jährigen ab und ordnete dessen Freilassung an. Fetissi war während der Proteste gegen Algeriens Staatsführung am 5. Juli in Annaba verhaftet worden und saß seither in Untersuchungshaft. Einziger Anklagepunkt in dem emotional aufgeladenen Prozess: Verletzung der Integrität der nationalen Einheit. Fetissis angebliches Vergehen: Er hatte während der Kundgebung die Berberfahne, ein vor allem kulturelles, aber auch politisches Symbol der Berberminderheit im Land, geschwenkt.

Die Urteilsverkündung war mit Spannung erwartet worden. Denn der sich übereifrig gebärdende Staatsanwalt, der in Anhörungen die Plädoyers der Verteidigung mehrfach in aggressiver Manier unterbrochen hatte, forderte eine Geldstrafe von umgerechnet rund 1500 Euro und zehn Jahre Haft für Fetissi. Die Richterin sprach den Angeklagten jedoch nicht nur frei, sondern ordnete an, Fetissi seine konfiszierten Fahnen zurückzugeben – eine symbolträchtige Geste angesichts der im Juni ausgesprochenen Order von Armeechef Ahmed Gaïd Salah, künftig nur noch die algerische Nationalfahne bei den Protesten zu tolerieren.

Konfiszierte Flaggen

Auch deshalb gehen Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz bereits seit Monaten verstärkt gegen Menschen vor, die während der weiterhin allwöchentlich stattfindenden Demonstrationen für einen echten politischen Wandel die Berberfahne mit sich tragen.

"Obwohl es in Annaba wiederholt Festnahmen wegen der Berberfahne gab, wurden bisher alle Betroffenen nach wenigen Stunden wieder freigelassen, nur ihre Flaggen wurden konfisziert", sagte der Menschenrechtsaktivist und einer von Fetissis Anwälten Kouceila Zerguine zum STANDARD. In anderen Landesteilen liefen Prozesse gegen Menschen, die bei Protesten die Berberfahne geschwenkt hatten, jedoch weniger glimpflich ab. Ende Juli verurteilte ein Gericht in Chlef in Westalgerien zwei Männer zu zweimonatigen Bewährungsstrafen.

Für Zerguine ist das Vorgehen der Behörden politisch motiviert. "Es handelt sich um einen Versuch, die Protestbewegung zu spalten", so der Anwalt. "Die Berberfahne ist ein Symbol einer nationalen Kultur, die von der algerischen Verfassung explizit anerkannt wird. Wie kann es also sein, dass es die nationale Einheit gefährdet?"

Für Zündstoff sorgt die Fahne bereits seit Monaten. Seit Beginn der Massenproteste gegen Algeriens Staatsführung im Februar war die Fahne vor allem in der mehrheitlich von Berbern bewohnten Provinz Kabylei östlich der Hauptstadt Algier, aber auch in anderen Landesteilen omnipräsent – wird sie von vielen doch nicht nur als Symbol des Kampfes der Berberminderheit für kulturelle Freiheiten angesehen, sondern auch als Ausdruck politischer Kämpfe.

Das Regime macht sich dabei schon seit längerem die Heterogenität der Protestbewegung, die sich aus linksliberalen, konservativen und nationalistischen Kreisen speist, zunutze und versucht, sie zu spalten. Seit Algeriens De-facto-Machthaber Gaïd Salah das Tragen der Berberfahne implizit untersagt hat, gehen die Behörden teils äußerst ruppig gegen Menschen vor, die auf Protesten die Berberfahne schwenken.

Monatelange Proteste

Die im Februar ausgebrochenen Proteste hatten nach monatelanger Massenmobilisierung Algeriens Präsidenten Abdelaziz Bouteflika zum Rücktritt gezwungen und eine beispiellose Verhaftungswelle gegen führende Politiker und andere Profiteure der Bouteflika-Ära ausgelöst. Nachdem die Massenproteste im Mai und Juni an Zugkraft verloren hatten, konnte die Protestbewegung im Juli abermals stark mobilisieren und damit zeigen, dass die Unterstützung für die Bewegung keineswegs abgeebbt ist.

Dennoch steckt das Land in der Sackgasse. Denn das Regime um Gaïd Salah und Interimspräsident Abdelkader Bensalah sowie die Protestbewegung stehen sich unversöhnlich gegenüber. Während der Armeechef unbeirrt an frühzeitigen Präsidentschaftswahlen festhält, fordert die Protestbewegung, die sich bisher unfähig gezeigt hat, Verhandlungsführer zu benennen, zunächst die Rücktritte von Gaïd Salah und Bensalah. (Sofian Philip Naceur, 9.8.2019)