Das Gespür für den "richtigen" Roman zur passenden Zeit hatte der teils asketische, teils ausschweifende Autor bereits in den Kriegsjahren, als er den "Demian" vollendete.

Suhrkamp-Verlag / Warhol Foundation

Selten erfuhr der Roman eines "neuen" Autors so ungeteiltes Lob wie das vermeintliche Erstlingswerk eines gewissen Emil Sinclair, das bei S. Fischer 1919 zunächst unter dem Titel Demian. Die Geschichte einer Jugend erschienen ist. Ein Jahr und drei Auflagen nach der Erstpublikation, als der Autor den Fontane-Preis erhalten und wieder zurückgegeben hatte, ließ der Verlag wahrheitsgemäß Hermann Hesse als Autor firmieren und die Geschichte von "Emil Sinclairs Jugend" erzählen. Das Werk, welches den Aufstieg des Autors und den Übergang in eine reifere Phase nach Erstlingserfolgen (Unterm Rad, Gertrud, Rosshalde) markiert, war zuvor Gegenstand einer bizarren Aufdeckungsgeschichte geworden, die der Schriftsteller nicht vorhergesehen hatte.

Als er um 1917 am Demian schrieb, setzten ihm die Midlife-Crisis und eine rastlose Sinnsuche zu, die ihn auf die Psychoanalyse-Couch des Psychiaters Dr. Lang, eines C.-G.-Jung-Schülers, brachte. Weniger aus schnöden Marketinggründen als zum Schutz seiner Identität und der schärfer werdenden Kriegszensur wegen hatte der 1877 geborene Württemberger ein Pseudonym gewählt. Vermutlich fürchtete Hesse, der in zwei Beziehungen gescheitert war, dass hinter der Geschichte einer Individuation die eigene Psychotherapie zwischen den Zeilen hervorschimmern könnte. Unbeholfen wirkt seine Begründung für das Versteckspiel mit dem Romanhelden Emil Sinclair, der kurzfristig zum Menschen und Autor mutierte: Er habe nicht als "alter Onkel" dastehen wollen, der mit vierzig der Jugend die Welt erklärt.

Hesse riskierte eine Enttarnung

Hesse riskierte mit dieser Volte, von Autorenkollegen entlarvt zu werden. Das Experiment lief aus dem Ruder, als der Rezensent Otto Flake Textvergleiche mit dem Frühwerk Hesses vornahm und der Züricher Literaturexperte Korrodi offen beim Autor nachfragte. Hesse log und erlebte sodann ein "Ibiza-Gate", denn er musste sich im Folgejahr 1920 outen, was auch die oben geschilderte verlagsseitige Umstellung hervorrief. Längerfristig schadete die Aufdeckung dem Autor aber nicht, im Gegenteil, auf den ersten Erfolgsschub sollte Jahrzehnte später eine Hesse-Renaissance folgen, von der neben den Spätwerken wie Das Glasperlenspiel vor allem der Steppenwolf profitierte, mit dem Hesse in den USA zum Kultautor wurde. Fast hundert Auflagen erlebte der Demian bis heute, abzüglich der Kriegsjahre 1939 bis 1945 jährlich eine.

Wer ein an einsamen Mansardenbewohnern und tanzbeinschwingenden Spiegeltrinkern geschulter Hesse-Leser ist, kann anlässlich einer genussvollen Wiederlektüre selbst zum Aufdecker des Demian-Versteckspiels werden. Es ist gar nicht schwer, dahinterzukommen, greift "Sinclair" doch eines seiner Lieblingsthemen auf, die Lebenskrise eines entwurzelten Mannes, der pars pro toto für eine politisch entwurzelte Generation stand. Ein Schelm, wer hier nicht autobiografische Einsprengsel vermutet hätte, die der Autor in die Geschichte einer Jugend einbettete.

Zu auffällig waren die Parallelen zu bereits erschienenen Hesse-Schriften. So gerät der junge Sinclair kräftig "unters Rad" und erlebt eine angsterfüllte Kindheit wie Karl Eugen Eiselein. Bereits die Lektüre weniger Zeilen lässt individuell-biografische Details hervorschimmern, bald wird klar, dass es hier nicht um den Helden Max Demian geht, sondern um die schwierige "Individuation" des Erzählers. Auffällig ist auch das familiäre Umfeld. Wie Sinclair hatte der Autor zahlreiche Geschwister und wuchs als Sohn pietistischer, von ihrem evangelischen Glauben und missionarischen Lebensweg überzeugter Eltern auf. Vermutlich teilte er auch das Schlüsselerlebnis des Romanerzählers: In einem Augenblick der Schwäche begibt sich Sinclair wegen des lässlichen Vergehens eines – erfundenen – Apfeldiebstahls in die Abhängigkeit vom Gassenjungen Kromer.

Ära kollektiver Verzweiflung

Der Retter, der den Rowdy gewaltlos in die Schranken weist, erscheint in Gestalt des reifen jüdischen Mitschülers Max Demian, dessen fiktiver Name an Joseph Roths Regimentsarzt Max Demant im Radetzkymarsch erinnert. Nicht unähnlich dem Abgesang auf die Habsburgermonarchie nähert sich die attraktive Mutter Demians dem adoleszenten Erzähler als erotisierende Eva. Nach einem Kriegseinsatz, in dem die Protagonisten verwundet werden, finden die beiden Freunde einander im Lazarett wieder. Demian erliegt seinen Verletzungen, Sinclair kann sich emanzipiert und eigenständig den Herausforderungen einer neuen, aber verworrenen Zeit stellen. Leitmotive sind die Gottheit "Abraxas", der auch Carlos Santana ein Album widmete, und der Maler Pistorius, an den sich Sinclair kurzfristig anlehnt.

Vermutlich hätte die Thematik, welche Hesse im Steppenwolf zu neuer Meisterschaft entwickelte, niemanden zu Begeisterungsstürmen hingerissen, wäre das Buch nicht in einer Ära kollektiver Verzweiflung erschienen. "Sinclair" legte die Finger in die Wunden einer ganzen Generation, genauso wie Hesse in den 1960ern zum Star einer sinnsuchenden und antimaterialistischen Hippiejugend werden sollte. Das Gespür für den "richtigen" Roman zur passenden Zeit hatte der teils asketische, teils ausschweifende Autor, den es bald ins ruhigere Tessiner Fahrwasser nach Montagnola treiben sollte, bereits in den Kriegsjahren, als er den Demian vollendete. Sensibel sah er den Untergang voraus.

Verlorener Krieg

Der Frühsommer 1919 markierte den Tiefpunkt des nationalen Selbstvertrauens in der Weimarer Republik und in "Deutschösterreich". Hunger und Furcht dominierten den Alltag, die Sorge wegen eines drückenden Siegfriedens wuchs. Alliierte Soldaten und fremde Polizisten wurden zum Sinnbild eines verlorenen Kriegs, auf den eine Reihe von Politmorden folgte. In Innsbruck mussten italienische Soldaten die Ordnung herstellen, als die enervierte und hungrige Bevölkerung Nahrungsmitteldepots des Wiltener Klosters stürmte. Der deutsche Diplomat Harry Graf Kessler, alles andere als ein "rechter" Politiker, verfiel angesichts der Friedensbedingungen von Versailles in eine Depression, die ihn zwei Wochen lang das Tagebuch unterbrechen ließ. Die deutschösterreichische Delegation in St. Germain versuchte verzweifelt, durch schriftliche Eingaben im professoralen Stil Karl Renners das Schlimmste zu verhindern, doch die "Großen vier" lasen die wortreichen Elaborate gar nicht, da sie längst andere Leitlinien für die Neuordnung Europas gezogen hatten.

In genau diese Phase stach Hesse mit seinem Roman, vor dessen psychologisch fein gewobenem Hintergrund er die Problematik einer "lost generation" entwickelte, die orientierungslos nach dem Krieg in Mitteleuropa aufwuchs. Mit dem Schicksal des jungen Mannes, der aus seinem Familienkokon gerissen wird und in die Zeitläufte eines Weltkriegs gerät, konnten sich viele Leser identifizieren. Sinclair überzeugte die Leser zudem als Erzähler und als geheimnisvoller literarischer Shootingstar, den keiner je persönlich gesehen hatte, den aber viele zu kennen oder zu erkennen glaubten.

Positiv fielen die Reaktionen etablierter Kollegen aus. Arthur Schnitzler nahm sich das Buch als Sommerlektüre in einen vom Ehestreit vergifteten Sommer mit und notierte Ende Juli 1919, dass er Sinclairs Demian gelesen hatte und das Buch "interessant" fand. Der Schöpfer des Reigen galt als Experte in psychologisch konnotierten Beziehungsfragen, dem sich junge Frauen und Männer gerne anvertrauten. Er las die Tagebücher der früh gereiften Hedy Kempny, einer sportlichen Bankangestellten, die wechselnde Liebschaften bevorzugte. Jakob Wassermann, Richard Specht und Emil Zuckerkandl weihten ihn in ihre neuen Beziehungen ein, Vilma Lichtenstern klagte ihm ihr Eheleid. Frontsoldaten wie Rudi Olden, der "schöne" Unruh und der zweifelhafte Psychiater Urbantschitsch berichteten ihre erotischen Erlebnisse dem Autor, der keiner Fantasie mehr bedurfte, um seine dramatischen Figuren zu schildern. Das von Sinclair/Hesse geschilderte Liebesverhältnis zur geheimnisvollen Mutter Demians passte in den Liebesreigen, der sich um Schnitzler drehte, die Sorgen der Zeit erlebte er selbst hautnah mit.

Thomas Mann gefiel, wie Sinclair die "Individuation" darstellte, worin er C. G. Jungs Thesen wiedererkannte. Der Lübecker verglich den Demian mit Goethes Werther, der den Nerv der Zeit traf, und er bewertete die psychoanalytischen Komponenten höher als im Zauberberg, seinem Opus magnum. Was Thomas Mann nicht wusste, war, dass "Sinclair" ihm schon länger als Autor bekannt war. Denn Hesse, zeitweise Mitarbeiter der Kriegsgefangenenhilfe, zuvor in Württemberg als Feinhandwerker und Buchhändler tätig, war als Schreibender etabliert. C. G. Jung, der damals in Zürich, später in Basel wirkte und seine Thesen im Demian ausformuliert vorfand, stellte das Buch in seine Patientenbibliothek – er hätte keine bessere Werbeschrift finden können.

Heute dominieren kritische Stimmen. So schrieb der in Bern lehrende Literaturprofessor Yahia Elzaghe, Hesse sei ein "Pubertätsautor", der sich mit dem Demian feig hinter dem Pseudonym "versteckt" habe. Elzaghe stößt sich besonders daran, dass die letzten Worte des Buchs "mein Freund und Führer" lauten, so als ob es sich um einen Vorgriff auf die NS-Terminologie handelte. Im Buch selbst aber prangert der stets pazifistisch eingestellte Hesse das "massenhafte Totschießen" von Menschen an. Unleugbar ist die politische Komponente, denn zwischen den Zeilen zeichnen sich gefährliche Entwicklungen ab, wie der "Führerkult" und eine Hinwendung zu Ersatzreligionen. Diese zu propagieren war von Hesse nicht beabsichtigt, wie jenes Zitat indiziert, das wie eine Vorabentschuldigung des Autors für allfällige Missverständnisse klingt: "Ich wollte ja nichts als das zu leben versuchen, das von selber aus mir heraus wollte. Warum war das so sehr schwer?" (Gerhard Strejcek, 10.8.2019)