Der Künstler Edmund de Waal: Seine Ausstellung im Jüdischen Museum in Wien wird sich um die Diaspora seiner Familie drehen.

Foto: Fulvio Orsenigo

In einer alten Synagoge im jüdischen Ghetto trifft man auf eine Installation mit Vitrinen des Künstlers Edmund de Waal. Im prunkvollen Veranstaltungsort Ateneo Veneto hat dieser ergänzend dazu eine "Bibliothek des Exils" mit bislang rund 2000 Werken von Autoren, die ihr Land verlassen mussten, eingerichtet. Besucher sollen schmökern und bei Gefallen ihren Namen im Ex Libris vermerken. De Waal verbringt hier Zeit, stets bereit, sein Konzept interessierten Passanten zu erklären.

STANDARD: Die zwei Teile von "Psalm", einer in den Räumen der Synagoge, der andere im Ateneo in der Nähe von La Fenice, unterscheiden sich darin, wie sie vom Publikum wahrgenommen werden. Die Ausstellung im Ghetto ist meditativ, während die Bibliothek kommunikativ ist. Die Besucher dort sind aufgefordert, mit den Büchern zu interagieren.

De Waal: Das ist eine wundervolle Beschreibung. "Psalm" bezeichnet ja sowohl einen individuellen als auch einen gemeinschaftlichen Ausdruck. Einerseits kann ein Psalm wie Meditation oder ein Gebet funktionieren, andererseits wird ein Psalm auch gemeinschaftlich artikuliert. Von Anfang an war mir klar, dass ein Projekt im Ghetto Venedigs von dieser besonderen räumlichen Voraussetzung bestimmt sein soll. Genauso strahlt der Schauplatz im Ateneo als öffentlicher Ort seine Bedeutung aus.

STANDARD: In der Installation im jüdischen Viertel haben Sie die Innenräume der Synagoge und die Besonderheit der Gebäude am Platz berücksichtigt, die aus offensichtlichen Gründen viel höher gebaut werden mussten als die Häuser außerhalb des Ghettos ...

De Waal: Im Ghetto reagiert die Installation in mehrfacher Hinsicht auf räumliche Gegebenheiten. Da sind die Treppen, welche die Ebenen verbinden. Dann das Treppenhaus, schließlich die Innenräume, wie die Sukkah im dritten Stockwerk. Der ganze Aufbau ist eine hoch kodierte Geschichte, welcher sich zudem auf eine Passage bei Rilke bezieht, in der er über einen alten Mann im Ghetto schreibt, der immer noch eine Etage höher ziehen will, bis er knapp unterm Dach wohnend direkt ins Freie steigen kann, um dort die Weite zu spüren, die den jüdischen Venezianern wegen der beengten Wohnverhältnisse verwehrt war.

STANDARD: Gibt es auch eine Verbindung zwischen den hohen schmalen Gebäuden draußen, zwischen den Umrissen der Fenster, die zum Innenraum führen, und den Objekten aus Marmor, Gold und Porzellan, die sich in den Vitrinen befinden?

De Waal: Die Vitrinen sind genauso Fenster. Jedes Mal, wenn Sie auf eine Vitrine blicken, ist diese Vitrine etwas, das einen Raum formt. Sie hält einen Raum, sie hält die Luft. Mithilfe der Vitrine wird ein Innenraum hergestellt und gegen einen Außenraum abgehoben. Die meisten habe ich in der Nähe von Fenstern platziert. So werden die Vitrinen zu Fenstern.

STANDARD: Die Vitrinen samt Inhalt kann der Besucher nur über den Sehsinn wahrnehmen, so wie im klassischen Kunstkontext, während in der Bibliothek sich alles ums Berühren dreht, Begreifen im direkten Wortsinn. Da geht es um Partizipation.

De Waal: Die Vitrinen im Ghetto sind eine Serie aus Augenblicken der Kontemplation. Wenn man hingegen eine Bibliothek plant, soll es um die somatische Erfahrung mit Büchern gehen. Wie könnte man eine Bibliothek erdenken, die ihren Besucher nicht auffordern wollte, nach einem Buch zu greifen und seinen Namen hineinzuschreiben? Es gibt in letzter Zeit einige Künstler, die Bibliotheken ins Zentrum ihrer Arbeit gestellt haben. In den meisten ist das Publikum jedoch nicht eingeladen, die Bücher zu berühren.

STANDARD: Vor allem ist es der Tastsinn, der in Ihren beiden Büchern – "Der Hase mit den Bernsteinaugen" und "Die weiße Straße" – entscheidend ist, genauso wie in der Bibliothek im Ateneo.

De Waal: Das fängt mit meiner Keramik an, die so wesentlich über die Berührung mit den Händen entsteht und dann aber aus den Händen gegeben wird. Mittlerweile versuche ich noch Weitergehendes, nämlich die Berührung an verschiedenen Orten und mit anderen Medien als Porzellan. Ich schreibe an Wände, in die Wände hinein, schreibe auf Porzellan. Und ich schreibe in Bücher. Gerade habe ich ein riesiges Buch zu Paul Celan fertiggestellt, in das ich seine Gedichte in Englisch und Deutsch gedruckt habe. Dann malte ich mit flüssigem Porzellan über die Gedichte und schrieb sie noch mal per Hand nieder. Das bedeutet für mich, die Poesie zu berühren, die Dichtung Celans zu berühren.

STANDARD: Also der materielle Aspekt des Schreibens und der Schrift.

De Waal: Genau. Um die Worte zu vergegenwärtigen. Das Gewicht seiner Worte in die Gegenwart zu übertragen.

STANDARD: "Das Gewicht der Worte" – diesen Doppelsinn verweist einerseits auf die Wirkungsmacht, andererseits auf die materielle Qualität der Schrift.

De Waal: Stimmt, wenn Sie an eine Exilsituation denken, dann tragen Sie die Sprache mit sich. Das ist vorerst immateriell. Die Frage ist nun, wie kann man sie an einem anderen Ort wieder materialisieren? Das sind Fragen, die mich beschäftigen: das Gewicht, also die Bedeutung der Sprache, die man mit sich trägt, wenn man seinen Ort verlässt. Was passiert mit der Sprache, wenn man sich fortbewegt?

STANDARD: Sie haben oft die Sprache der Gegenstände erwähnt. In der Ausstellung im Ghetto arbeiten Sie mit Materialien in verschiedenen Größen und Formen, kombinieren diese. Ist das eine Art Grammatik, an der sich auch Mystiker versuchten?

De Waal: An dieser Stelle muss ich betonen, dass der Umriss der Objekte nicht das Entscheidende meiner Arbeit ist. Es ist ihr Volumen, der Raum, den sie einnehmen und der sich zwischen ihnen eröffnet.

STANDARD: Sie verstehen das Porzellanobjekt als Behälter für Leere?

De Waal: Sobald Sie vergessen, dass Getöpfertes bloß eine Form für dekorative Zwecke darstellt, dann wird das Objekt zu einer Gestalt, die vor allem Atem enthält, einen Raum für die Luft, die für mich Atem ist. Wir brauchen den Atem zum Sprechen.

STANDARD: Sie sprachen davon, dass die Marmorstücke, die Sie für die Vitrinen verwenden, transitorische Objekte sind.

De Waal: Mir ist wichtig, woher meine Materialien stammen. Offensichtlich ist Porzellan ein migratorisches Material, das erstmals in China auftauchte. In Meißen wurde es noch mal, als Nebenprodukt von Alchimisten erfunden. Das Porzellan, mit dem ich arbeite, beziehe ich aus Limoges. Wenn ich Marmor verwende, ist es auf jeden Fall entscheidend, woher. Einige Stücke sind aus Paros, dort sind die schönsten Marmorstatuen der griechischen Antike gestaltet worden. Für einen Künstler existiert kein neutraler Rohstoff.

STANDARD: In Ihrem Buch "Die weiße Straße" schreiben Sie vom Geschmack der Farben. Welchen Geschmack hat Weiß?

De Waal: Einen profunden, weil es die Farbe ist, aus der alle anderen entstehen. Also ist es ein Anfang, wie eine weiße Seite beim Schreiben. Die Potenzialität. Das ist gleichzeitig wunderbar und furchteinflößend.

STANDARD: Für Celan war das Weiß ein Raum, der das Gedicht umschließt. Weil die Wortgefüge Platz brauchen, um auszustrahlen. Seine Gedichte sind Konzentrate.

De Waal: Ich liebe dieses Konzept.

STANDARD: Wie fühlt es sich für Sie nun an, nach Wien zu kommen, im Wissen, dass sich die Netsuke nach ihrer Odyssee um die Welt neuerlich in Wien befinden?

De Waal: Es ist eine Ausstellung dazu und zu meiner Familiengeschichte für Herbst im Jüdischen Museum geplant. Das wird sicher ein bedeutender Augenblick. Ich drücke mich um die Frage herum: Mein Gefühl Wien gegenüber ist weiterhin ambivalent.

STANDARD: Andererseits haben Sie entschieden, dass die Netsuke nach Wien gehen sollen. Wollten Sie, dass die Figuren an den Ort zurückkehren, von dem ihre Besitzer vertrieben wurden?

De Waal: Ein paar Figuren haben wir für die Förderung eines Projekts für Geflüchtete verkauft. Die Ausstellung im Jüdischen Museum soll vor allem die Geschichte der Diaspora meiner Familie zeigen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, ja sogar die Notwendigkeit, Geschichten dieser Art in Wien zu verbreiten. Das ist der eigentliche Grund. Wer hätte gedacht, dass 2019 wieder an die historischen Ereignisse rund um den Nationalsozialismus und den Genozid erinnert werden muss? Dass wir erneut beginnen müssen, deutlich zu machen, was damals Schreckliches geschehen ist?

STANDARD: Anscheinend muss das für jede Generation von neuem und mit anderen Schwerpunkten erzählt werden. Das Spannende in Ihrem Buch über die Netsuke ist, dass Sie zeigen, wie Gegenstände von Generation zu Generation weitergereicht werden und dass diese Objekte die Generationen verbinden. Das ist eine bemerkenswerte Möglichkeit, um Historie zu veranschaulichen.

De Waal: Na ja, für mich fühlte sich das nicht kompliziert an. Ich hatte das dringende Bedürfnis, die Geschichte meiner Familie und dieser japanischen Figuren zu erzählen.

STANDARD: Aus Ihren Voraussetzungen, sowohl mit Worten als auch mit Gegenständen künstlerisch umzugehen, haben Sie Historie mithilfe von Worten und Objekten verdeutlicht. In Ihrem Fall sind es die Netsuke, oder im Buch über Porzellan schildern Sie in einem Kapitel, dass im Werk von Allach absurderweise KZ-Insassen aus Dachau die Julleuchter hergestellt haben, welche von den Nazis als typisch deutsch gepriesen wurden.

De Waal: Genau, wir wollen keine homogenisierten Geschichten. Es geht unbedingt darum, spezifische Fälle hervorzuheben und die Besonderheit einzelner Geschehnisse zu betonen. Wenn es eine Verpflichtung gibt, die wir als Künstler haben, dann ist es genau diese Aufgabe, die Historie in persönliche Fälle zu überführen, mit denen sich die Menschen der Gegenwart identifizieren können. (Sabine Scholl, 10.8.2019)