Nur der See liegt still und droht leise damit zu werden, was er eh immer schon war: ein flüchtiger Gast.

Der Neusiedler See – so hieß es einst naserümpfend -, den musst du mögen. Mittlerweile tun immer mehr genau das, aber ohne die Nasen zu rümpfen. Der See boomt. Man fährt zum Essen her und zum Weinkaufen sowieso. Man kommt seit Jahren auch von weither zum Shoppen. Man schleicht sich vorsichtig durch die Seewinkler Steppe zum Birdwatchen.

Man geht Operetten schauen. Und Opern schauen. Und nachschauen, was sich in der Cselley Mühle tut. Und das alles tut man neben den klassischen Dingen: segeln, surfen, kiten, radeln, schwimmen, plantschen, am Strand liegen, Auf die Kinder schauen, Gelsen klatschen und was es sonst noch Unterhaltsames gibt am Wasser.

Abendsonne im Illmitzer Strandbad.
Foto: Petra Eder

Aber den See nur als Fremdenverkehrsgebilde zu beschreiben wäre zu kurz gegriffen. Denn hier – mittlerweile längst im Weichbild der Twin-City – hat sich über Jahrzehnte etwas zusammengebraut, das nun allmählich anfängt, ein Gesamtbild zu ergeben. Eine Stimmung. Ein Flair. Ein Geruch: Der See riecht ja schon von weitem auf seine ganz spezielle Weise. Nicht nach dem Kristallklaren der Berge. Er riecht nach Steppe. Nach Salz. Nach Sumpf. "Fertõ tó", das heißt ja Sumpf-See.

Von jeher hat der Neusiedler See für die Menschen diesseits der Leitha, für die Österreicher also, eine exotische Attraktion gehabt. Fremd schien er vielen. Der Prager Franz Werfel nannte den See einmal "Österreichs seltsamen Gast". Das war lange Zeit – bis in die 1990er-Jahre – Marketingslogan und Last zugleich.

Trendsetter

Man sagt, das neue Leben am alten Sumpfsee habe so richtig erst 2004 mit der Mole West in Neusiedl begonnen. Endlich ließ sich hier auch direkt am Wasser sitzen. Was heißt am? Im! Sogar mit dem Boot konnte man, von daher der Name, das Lokal besuchen. Bobostan – erzählt man sich und einander – quietschte vor Vergnügen.

Tatsächlich war die Mole ein Trendsetter. Rust genehmigte sich dann den Katamaran. Das Haus im See eröffnete in Fertõrákos. Und zuletzt präsentierte sich in Weiden das Fritz, beinahe eine Kopie der Mole: eine veritable Marina.

Überall am und rund um den See herum entstanden Tempel des Schmausens, inspiriert vom Urvater: dem Taubenkobel in Schützen. STANDARD-Gaumen Severin Corti durfte sich nun immer wieder durch neue oder neu belebte Lokalitäten am See kosten. Tobias Müller, Koch-Blogger des STANDARD, tat sich hin und wieder gar mit Max Stiegl zusammen, der das Gut Purbach wachgeküsst hat und nun mit Inbrunst die Vegetarier vom Hof scheucht, indem er immer wieder die Sau zum Tanz bittet.

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Der Leuchtturm in Podersdorf.
Foto: Robert Haasmann / imageBROKER / picturedesk.com

Ein Nerv der Zeit

Das Magazin Der See begleitet die Entwicklung seit einem Vierteljahrhundert. Herausgeberin Petra Menasse-Eibensteiner glaubt, "dass die Mischung am See gerade einen Nerv der Zeit trifft: das unaufgeregt Freundliche der Menschen wirkt authentisch, nicht aufgesetzt. So wie die Küche, die Konzentration aufs Regionale. Und zu dem allem kommt natürlich die Nähe zu Wien und Bratislava."

Die Seeregion habe in gewisser Weise zu sich selbst gefunden. Die Menschen haben, durchaus befördert durch auswärtiges Schulterklopfen, einen gewissen Stolz aufs Eigene entwickelt. So inspiriert, wird selbst ein Seewinkler Gemüsebauer zum weltweit tätigen Inspirator: Erich Stekovics, der Kaiser der Paradeiser.

1993 entstand der grenzüberschreitende Nationalpark Neusiedler See-Seewinkel. Der entwickelte sich bald zu einer weithin be- und geachteten Einrichtung. Die Wucht touristischen Wünschens erzwang dort den Bau einer Therme. St. Martins Therme & Lodge heißt sie. Und Lodge! Von dort geht's auf Steppensafari.

Die St. Martins Therme in Frauenkirchen.
Foto: St. Martins Therme und Lodge/Rudy Dellinger

Österreichs seltsamer Gast ist ein Gästemagnet geworden. Und er lechzt nach vielsternigen Betten. In Andau entsteht gerade ein 115-Zimmer-Hotel. Ein Hotel geplant ist auch am See in Neusiedl. Gebaut wird in Oggau und Weiden. In Breitenbrunn krempelt Seebadeigner Esterházy die in die Jahre gekommene Anlage in die neue Zeit. Umweltschützer schreien Feuer: Das naturbeschädigende Bauen gefährde auch den Welterbe-Status. Das neue Leben am See birgt jede Menge Konfliktstoff. Nicht ganz so explosiven wie damals in den 1970ern, als man ernsthaft erwogen hatte, eine Brücke über den See zu schlagen. Aber immerhin.

Nun mischen sich auch die Ungarn ins Geschehen. Angeblich unter federführender Beteiligung von Viktor Orbáns Tochter Ráhel wird das alte, heruntergekommene Seebad in Fertõrákos, Ungarns einziger Seezugang, modernisiert. Nein, mondänisiert. Hotel, Hafen, Restaurant, Camping, Wasserpark; alle Stückerln soll es spielen. Den Sopronern werde damit, so der städtische Tourismuschef Béla Kárpáti, "ein Sehnsuchtswunsch" erfüllt. Umweltschützer wettern wortreich dagegen.

Laut Plan ist er 2021 fertig: der Luxushafen von Fertorákos mit geschätzten Investitionskosten von bis zu 75 Millionen Euro. Das Monsterprojekt ruft Kritiker auf den Plan.
Rendering: Cyberpress.hu
Auf beiden Seiten der Grenze werden Umweltverträglichkeitsprüfungen gefordert. Bei Realisation umfasst der Hafen mit Stellplätzen für 800 Boote und Vier-Sterne-Hotel eine Fläche von 60 Hektar.
Rendering: Cyberpress.hu

Burgenlands Grünen-Chefin Regina Petrik ortet insgesamt eine "Goldgräberstimmung". Das beschreibt ganz gut die Rückseite dessen, was von vorn so hübsch nach Boom ausschaut. Der ungarische Plan verschärft die Debatte ums Zwischenstaatliche. Und damit um die Frage, wohin der See eigentlich gehöre. Eine Frage, die zum Neusiedler See gehört, wie – sagen wir's einmal so – Ödenburg zum Burgenland.

All die Projekte sind aber auch getragen von Wagemut. Immerhin neigt der See zu hoher Volatilität. Immer wieder droht er auszutrocknen. Immer wieder tut er das auch. Zuletzt in den 1860er-Jahren. Jetzt, so eine Studie der Universität für Bodenkultur von 2005, wäre es eigentlich an der Zeit für ihn, sich wieder zu verabschieden auf ein paar Jahre. Der Sumpfsee ist ganz ohne Klimawandel nicht nur ein seltsamer, sondern auch ein flüchtiger Gast. (10.8.2019)