Justitia verarmt – und kann das hohe Niveau kaum mehr halten

Foto: APA/Pfarrhofer

Wie ein Körper ohne Geist sei ein Staat ohne Gesetze: Das erkannte schon der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero. In den Jahrtausenden seit Cicero hat sich ein ebenso raffiniertes wie ausdifferenziertes System gebildet, um die Gesetze eines Staates zu wahren. Dennoch wird seit Jahrzehnten Sorge um ihre Unabhängigkeit und Fähigkeiten laut. Schon 2003 beklagten alle Nationalratsfraktionen in einer Aussendung die weit überschrittene Belastungsgrenze in der Justiz: zu wenige Staatsanwälte, personelle Engpässe an den Gerichten, überfüllte Gefängnisse, Arbeitsüberlastung und, wie so oft, ein zu geringes Budget. Es geschah: wenig. 2009 wollte sich dann die damalige Justizministerin Claudia Bandion-Ortner (ÖVP) "mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass der Justiz jene Ressourcen zur Verfügung stehen, die zur Aufrechterhaltung des hohen Standards benötigt werden". Sätze, die heuer von ihrem Nachnachnachfolger fast wortident zu hören waren. "Wo wir nicht sparen können, ist der Rechtsstaat", verkündete Justizminister Josef Moser (ÖVP) im Mai.

Dann kamen das Ibiza-Video, ein Regierungswechsel und eine drastische Warnung des neuen Justizministers Clemens Jabloner, der vom "stillen Tod" der Justiz sprach. Tatsächlich merkt man den Ressourcenmangel auf dem Weg von Staatsanwalt bis zu Prozess, Anklage und Urteilsvollzug. Die Staatsanwälte lassen Verfahren immer wieder liegen, vor allem bei Großverfahren wird erst nach Jahren Anklage erhoben. Über einen angeblichen Ressourcenmangel gibt es auch intern Zwist. Bei den Gerichten fehlt vor allem hinter den Kulissen Personal, zum Beispiel bei den Schriftführern.

Nach einem Urteil mit Haftstrafe kommen Delinquenten in den Vollzug, die dritte Säule der Justiz. Aber auch dort hakt es. Österreichweit sind über 200 Planstellen nicht besetzt, die Justizwachebeamten müssen deshalb oft dutzende Überstunden pro Woche schreiben. Das geht auch zulasten der engagierten Projekte, die für eine Resozialisierung der Gefangenen sorgen sollen. Vielleicht stirbt also nicht der Rechtsstaat einen "stillen Tod", aber zumindest sein hohes Niveau.

Foto: APA/Scheriau

1. Die Gerichte: Prekäre Personalsituation in der Verwaltung

Das Verwaltungspersonal bei den Gerichten wurde in den vergangenen zehn Jahren um zehn Prozent reduziert. Die Folgen sind spürbar.

Sie müssen deutlicher sprechen", ermahnt die vorsitzende Richterin Minou Aigner die Angeklagte. "Wir haben keine Schriftführerin, es wird nur auf Video aufgenommen. Und wenn man dann nichts versteht und kein Protokoll angefertigt werden kann, sitzen wir alle wieder hier und müssen den Prozess wiederholen", erklärt sie in dem Verfahren am Straflandesgericht für Strafsachen Wien. Wo man, wie an vielen Gerichten im Land, mit der prekären Personalsituation kämpft.

Die Schriftführer sind ein gutes Beispiel für die Misere: 17 Planstellen sind es theoretisch, da auch Teilzeitkräfte darunter fallen, geht es rechnerisch um 15,7 Vollzeitstellen. Drei von diesen sind seit eineinhalb Jahren fix dem Buwog-Verfahren zugeteilt, eine weitere Person ist seit längerem im Krankenstand. Also ist mit 11,7 Stellen ein Viertel weniger Personal vorhanden, als es sein sollte, die Urlaubszeit tut ihr Übriges. Das technische Hilfsmittel der Bild- und Tonaufzeichnung ist im Grauen Haus nur bedingt nutzbar – erstens sind nicht alle Verhandlungssäle technisch entsprechend ausgestattet, und zweitens müssen die Schriftführerinnen die Aufnahmen erst recht transkribieren, falls vertagt oder das Urteil nicht rechtskräftig wird.

Zwischen 2013 und 2018 stieg die Zahl der Richterinnen und Richter laut Justizministerium von 1668 auf 1706 Planstellen. Das Personal bei der Anklagebehörde erhöhte sich in diesem Zeitraum von 396 auf 406. In den Kanzleien zeigt sich dagegen ein anderes Bild: Der "Allgemeine Verwaltungsdienst", wie es im Amtsdeutsch korrekt heißt, musste einen personellen Aderlass hinnehmen. Gab es im Jahr 2009 noch 4918 Planstellen in diesem Bereich, sind es zehn Jahre später lediglich 4504 – ein Minus von fast zehn Prozent.

Die Auswirkungen der Personalreduktion in den Kanzleien spüren beispielsweise Verteidiger. "Einerseits gehen Ladungen später hinaus, andererseits sind Akten nicht greifbar, und Aktenkopien dauern länger", berichtet etwa Normann Hofstätter. Auch seine Branchenkollegin Heike Sporn bemerkt diese Defizite. In jüngster Vergangenheit sei aufgrund eines Krankenstandes auch das Verteidigerzimmer, in dem im Landesgericht etwa Akten studiert und kopiert werden können, nur noch eingeschränkt geöffnet gewesen.

Es gibt aber justizintern und -extern durchaus auch Stimmen, die die Arbeitsmoral des Personals anzweifeln. Öffentlich will das aber niemand sagen. Ganz so schlecht kann diese aber nicht sein: Bei der Finanzverwaltung, die ebenso Personal sucht, freut man sich über die Kanzleikräfte, die zumindest in Wien vom Justiz- ins Finanzministerium wechseln.

Justizminister und Vizekanzler Clemens Jabloner kündigt jedenfalls an, seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin einen Wahrnehmungsbericht zu hinterlassen, der eine Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen enthalten soll. "Mit der bloßen Forderung nach Ressourcen ist es dabei sicher nicht getan. Selbstverständlich sind auch innerhalb der Justiz strukturelle, organisatorische, effizienzsteigernde beziehungsweise qualitätssichernde Maßnahmen zu ergreifen", stellt Ministeriumssprecherin Christina Ratz klar.

Was von diesem Versprechen zu halten ist, bleibt abzuwarten. EDV-mäßig beispielsweise hapert es in der Justiz noch immer gewaltig, die Vision des "elektronischen Aktes" ist noch weit von der Realisierung entfernt. Im Gegenteil: Seit der Einführung der Datenschutzgrundverordnung übermitteln zum Beispiel die Justizanstalten Bilder von Untersuchungshäftlingen nicht mehr automatisiert an die Staatsanwaltschaften. Stattdessen muss die Anklagebehörde einen Antrag stellen und bekommt das Foto dann ausgedruckt zugestellt.

2. Die Staatsanwälte: Ressourcenmangel und interne Querelen

Staatsanwälte erheben Anklage gegen mutmaßliche Kriminelle. Doch sind sie unvoreingenommen – oder werden sie in ihrer Arbeit behindert?

Schleppende Ibiza-Ermittlungen, "ÖVP-Netzwerke", dubiose Verfahrenseinstellungen und mysteriöse Weisungen: Wer sich in der politischen Blase in Wien umhört, bekommt rasch den Eindruck vermittelt, Österreich sei ein Bananenstaat, in dem Interventionen bei Ermittlungen und Prozessen auf der Tagesordnung stünden. Vor allem in Zeiten des Wahlkampfs vergeht kaum ein Tag, an dem kein "U-Ausschuss Justiz" gefordert wird oder interne Gerüchte aus den Staatsanwaltschaften an die Öffentlichkeit gelangen.

Das steht in krassem Widerspruch zum Empfinden der Bevölkerung. Eine Umfrage der EU-Kommission belegt, dass über achtzig Prozent der Österreicher Vertrauen in die Justiz haben. Nur in Finnland und Dänemark sind die Werte noch besser.

Woher rührt also diese Diskrepanz zwischen dem Gefühl der Wähler und den Aussagen der Politiker? Eine Antwort darauf könnte die Art und Weise geben, wie Österreichs Justiz organisiert ist – oder besser gesagt: wie nicht. Für viele Beobachter sind Vorgänge zwischen Ministerium, Staatsanwälten und Gerichten eine Art Blackbox, die schwer geknackt werden kann. Da wird sogar in der Zeit im Bild, der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes, von "Weisungen an Gerichte" gesprochen – obwohl diese weder formell noch informell existieren. Dazu wurde in dem Beitrag angedeutet, dass die Unabhängigkeit der Staatsanwälte bedroht sei.

Staatsanwälte sind nicht unabhängig

Tatsächlich sind österreichische Staatsanwälte nicht unabhängig. Sie sind von "ihrer" jeweiligen Oberstaatsanwaltschaft abhängig. Diese wieder untersteht dem Justizministerium, das Weisungen erteilen kann. Bei komplexen Fällen wie Eurofighter oder BVT kommt es zu sogenannten Dienstbesprechungen zwischen allen Mitgliedern der Weisungskette. Ein Weisenrat prüft Anweisungen an die untergeordneten Instanzen, das Parlament erhält (etwa über Anfragen) Einblick in die Entscheidungen. Dieses Modell sieht klar eine politische Verantwortung am Ende der Weisungskette. Und birgt, so monieren Kritiker, die Gefahr politischer Einflussnahme – etwa bei der Frage, wie Ressourcen eingesetzt werden. In Großverfahren wie dem Eurofighter-Komplex könnten höhere Stellen beispielsweise die Empfehlung abgeben, gewisse Stränge zu kappen. Daran entspann sich einer der bizarrsten Justizgefechte der letzten Jahre. Die Wirtschafts- und Korruptionsanwaltschaft (WKStA) beklagte eklatanten Personalmangel, was man im Ministerium anders sah. Sektionschef Christian Pilnacek empfahl den Staatsanwälten in einer Dienstbesprechung, einen Ermittlungsstrang "zu daschlogn" und sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Das legte die WKStA als widerrechtlichen Interventionsversuch aus und erstellte Anzeige gegen Pilnacek. Darauf reagierte das Justizministerium mit einer Gegenanzeige – beide blieben folgenlos.

Neos und SPÖ forderten im Vorjahr eine Änderung des bestehenden Modells. Vorstellbar sei etwa, einen "Bundesstaatsanwalt"nach Vorbild des "Prosecutor General" einzusetzen – wie in der überwiegenden Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten üblich. Dabei handelt es sich um einen weisungsfreien Chefankläger, der (zumindest in der Theorie) keine Rücksicht auf Parteipolitik nimmt. Justizminister Clemens Jabloner hält eine Reform zwar für überlegenswert, zeigt sich aber bezüglich dieses Modells eher skeptisch. Kritiker weisen auf Fallstricke hin. So warnt der freiheitliche Abgeordnete Volker Reifenberg davor, dass die Postenbesetzung dieses Bundesstaatsanwalts vermutlich parteipolitisch beeinflusst wäre; also der gegenteilige Effekt zu einer Entpolitisierung eintrete. Manche Länder lassen ihre Bürger Staatsanwälte wählen, etwa 47 US-Bundesstaaten. Auch dieses System gilt als problematisch. Tendenziell gewinnen Hardliner, die dann ihre Wahlversprechen – etwa möglichst viele Verurteilungen im Suchtgiftbereich – umsetzen wollen.

Foto: Standard/Corn

3. Die Gefängnisse: Personalengpässe auch im Vorzeige-Vollzug

Die Justizanstalten sehen sich mit Personalknappheit und einem Mehr an Aufgaben konfrontiert. Das wirkt sich auf den Gefängnisalltag aus.

Blickt man auf den hochmodernen Gebäudekomplex inmitten eines Wohngebiets, ist es lediglich der Stacheldrahtzaun, der in Erinnerung ruft, dass es sich hierbei um ein Gefängnis handelt. Auch im Inneren der Justizanstalt Korneuburg läuft einiges anders als in anderen Anstalten. Viele Hafträume stehen offen, die Gänge sind lichtdurchflutet, es gibt lediglich Ein- und Zweibettzimmer. Untertags betätigen sich die Insassen in hauseigenen Werkstätten oder arbeiten Unternehmen zu. Eine Frau sitzt über ihren Lernunterlagen und bereitet sich auf die Lehrabschlussprüfung vor. Zwei Drittel der Häftlinge sind im offenen bzw. halboffenen Vollzug angehalten. Die Unterabteilungen sind also durchgängig oder untertags geöffnet.

Der Neubau der Justizanstalt Korneuburg und des nebengelegenen Gerichtsgebäudes wurde 2012 fertiggestellt. Zuvor klagte man über äußerst prekäre bauliche Bedingungen. Anlagen und Installationen waren veraltet und somit ständig reparaturbedürftig, die Ausstattung der Hafträume, Betriebe und Freizeiteinrichtungen entsprach längst nicht mehr den heutigen Anforderungen. Ein Schicksal, mit dem zahlreiche Justizanstalten aktuell zu kämpfen haben, auch wenn das Beispiel Korneuburg zeigt, wie sehr man von Investitionen profitiert. Die geringe Einschlusszeit, die über alle Insassen hinweg durchschnittlich 11,25 Stunden beträgt, führte nach der Übersiedlung zu einem Rückgang der Ordnungswidrigkeiten um 20 Prozent. Auch eine Reduktion der Medikamentenkosten um 60 Prozent konnte festgestellt werden.

Mehr Aufgaben, weniger Personal

Doch auch in Korneuburg läuft nicht alles reibungslos. Personalengpässe, über die die Anstalten landesweit klagen, schränken den Vorzeige-Vollzug und damit engagierte Projekte der Belegschaft ein. "Wir geben uns Mühe, die Beschäftigung in den Werkstätten durchgängig aufrechtzuerhalten, aber wenn zuständige Justizwachebeamte akut anderwertig eingesetzt werden müssen, sind mir die Hände gebunden", beschreibt Justizanstaltsleiter Turner die derzeitige Personalsituation. Das Problem liege vor allem an der Übernahme von einem immer größeren Pool an Aufgaben. Auch wenn in Korneuburg alle Planstellen besetzt sind, braucht es zusätzliches Personal. Nimmt man die Resozialisierungsaufgabe des Strafvollzugs ernst, müsse man schon am Tag der Einlieferung an den Tag der Entlassung denken. Das setzt voraus, dass sich die Belegschaft eingehend mit den Insassen beschäftigen kann.

Österreichweit sind momentan 210 Planstellen unbesetzt. Eine Wochenarbeitszeit von bis zu 90 Stunden erschöpft die Justizwache und erschwert Rekrutierungsversuche. Die vielfach angekündigte Übernahme in die Schwerarbeiterregelung lässt ebenso auf sich warten. Selbst wenn in Haftanstalten wie in Korneuburg ein gutes Klima herrsche, handle es sich um eine äußerst belastende und gefährliche Arbeit, gibt Turner zu bedenken.

In Wien wird der Ruf nach einem neuen Gefängnis lauter. Die Justizanstalt Josefstadt, das größte heimische Gefängnis, ist für maximal 990 Insassen konzipiert, 1200 sind aber seit Jahren die Realität. Moderne Resozialisierung gibt es hier kaum mehr, auch Deradikalisierungsprogramme scheitern am Platzmangel. (Fabian Schmid, Franziska Windisch, Michael Möseneder, 10.8.2019)