STANDARD: Wenn Sie Ihre berufliche Karriere Revue passieren lassen, wie sehen Sie Ihren Beruf nach über 20 Jahren Ordination?

Rüth-Dressel: Es ist ein wunderbarer Beruf mit großer Verantwortung. Ich habe meine Rolle als Kinderärztin immer sehr ernst genommen. Es ist eine wichtige, weil ich nahe an den Menschen arbeite. Wenn ich Krankheiten behandle oder impfe, dann habe ich viel mit dem Körper meiner kleinen Patienten zu tun. Ich bin für sie ein Vorbild auch im Umgang mit ihrem Körper. Und ich bin mir bewusst, dass ich möglicherweise Weichen für ein ganzes Leben stelle.

STANDARD: Wie meinen Sie das?

Rüth-Dressel: Es gibt eine ganze Flut an Studien, die belegen, wie wichtig die Kindheit und die Jugend für ein erfolgreiches Leben sind. Da geht es um Körperwahrnehmung, um das Ernstnehmen von Problemen und um die Frage, wie man mit Krisen umgeht. Bei Kindern spielt die Psychosomatik eine noch viel stärkere Rolle, da äußern sich seelische Probleme sehr schnell in körperlichen Symptomen. Zudem spielen auch die Eltern eine zentrale Rolle. Als Kinderärztin gehört es dazu, auch die Eltern mit in die Behandlung einzubeziehen.

STANDARD: Klingt nach keiner einfachen Aufgabe?

Rüth-Dressel: Das stimmt, aber ich arbeite sehr gerne so komplex, auch wenn das sehr fordernd ist. Ich habe 60 bis 70 kleine Patienten und Patientinnen am Tag, plus ihre Eltern. Das macht 140 Gespräche. Auch das letzte Kind muss noch dieselbe Aufmerksamkeit bekommen wie das erste in der Früh.

STANDARD: Warum so viele Kinder?

Rüth-Dressel: Weil Kinderärzte die mit Abstand am schlechtesten bezahlte Berufsgruppe der Ärzte sind. Unsere verantwortungsvolle Arbeit wird nicht angemessen entlohnt.

STANDARD: Können Sie das konkretisieren?

Rüth-Dressel: Als Kassenärztin bekam ich zum Beispiel im ersten Quartal 2019 exakt 65,60 Euro für jedes Kind. Aber gerade bei Kindern ist es so, dass Patienten in diesen drei Monaten mehrmals kommen. Im Durchschnitt vier- bis fünfmal, manchmal bis zu elfmal. Das ist dann alles in den 65,60 Euro enthalten. Um überleben zu können, muss ich also sehr viele Kinder behandeln, schließlich läuft so eine Ordination ja auch nicht ohne Ordinationshilfen, die den Betrieb dann managen.

Die Aufgaben einer Kinderärztin sind vielfältig: Sie spielt auch eine tragende Rolle dabei, wie Kinder mit ihrem Körper umgehen – so werden Weichen für das Leben gestellt.
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STANDARD: Unser Gesundheitssystem ist stark an technischen Leistungen orientiert. Viele Ärzte beklagen, dass die Zeit nicht entsprechend honoriert wird. Stimmt das?

Rüth-Dressel: Ja, nicht adäquat. Für einen Patienten brauche ich im Schnitt zehn Minuten, ich habe zudem ein System, womit ich versuche, die Wartezeiten so kurz wie möglich zu halten. Schließlich gibt es auch kürzere Termine. Aber wir Kinderärzte stecken in einem engen Korsett: Wir sind für die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen verantwortlich, auch das Schema der Teilimpfungen gibt gewisse Intervalle vor. Außerdem kommen die Leute nicht zu uns, weil ihnen langweilig ist, sondern weil sie besorgt sind. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wichtig es ist, die Sorgen der Eltern ernst zu nehmen. Was mich dann schon freut, ist, wenn ich von der Mutter einer kleinen Patientin höre, dass sie "nur zur Frau Doktor beim Riesenrad" will, weil meine Ordination dort in der Nähe ist.

STANDARD: Wurde nicht eben ein neuer Vertrag ausverhandelt?

Rüth-Dressel: Ja, unsere Honorare werden bis Ende 2020 um bis zu 30 Prozent erhöht. Doch auch wenn ich 90 Euro verdiene, geht sich das nicht aus. Die nachfolgende Ärztinnen- und Ärztegeneration weiß das auch. Es gibt heute kaum mehr Absolventen, die den so wichtigen Beruf Kinderarzt ergreifen wollen. Man verdient schlecht, hat viel Stress und wird von den Verantwortlichen zu wenig unterstützt. Daran sollte sich etwas Grundlegendes ändern.

STANDARD: Viele Eltern entscheiden sich deshalb wohl für einen Wahlarzt.

Rüth-Dressel: Wie mir die Eltern in meiner Ordination berichten, nehmen sogar Wahlärzte oft keine neuen Kinder mehr, weil sie voll sind. Abgesehen davon können sich viele die Honorare dort nicht leisten. Zu mir kommen Leute aus allen gesellschaftlichen Schichten, mit allen möglichen Problemen, das ist doch gerade die Stärke des öffentlichen Gesundheitssystems.

STANDARD: Gehen nicht viele Eltern genau wegen des Kinderärztemangels direkt in die Spitalsambulanzen?

Rüth-Dressel: Kann sein, aber ich weiß, dass sogar Spitäler mit dem Mangel an Kinderärzten zu kämpfen haben. Es geht um einen systematischen Fehler in der Versorgung und die Tatsache, dass Kinder keine Lobby zu haben scheinen. Das macht mich fassungslos und sehr unzufrieden. Die politisch Verantwortlichen sollten sich bewusst sein, dass Kinderärzte gesamtgesellschaftlich und für unser aller Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

STANDARD: Was wurde aus den Lehrpraxen? Es gab doch die Idee, dass Kinderärztinnen wie Sie junge Kollegen ausbilden?

Rüth-Dressel: Ich habe das auch eine Zeitlang gemacht. Doch dann hätte ich die angehende Ärztin nach dem Kollektivvertrag entlohnen müssen. Mein Steuerberater rechnete mir dann vor, dass ich mir 2400 Euro für die Lehrpraxis mit meinen Einnahmen einfach nicht leisten kann. Das System wurde inzwischen verbessert, ich hatte mich daraus aber bereits zurückgezogen. Die praktische Ausbildung sollte genauso an die heutigen Gegebenheiten angepasst werden. Sonst versagt das System völlig. Bevor ich in Pension gehe, will ich diesen Missstand aufzeigen: Kinderärzte verschwinden aus der Versorgung.

Elisabeth Rüth-Dressel (64) ist Kinderärztin mit Kassenvertrag im zweiten Wiener Gemeindebezirk, zuvor war sie Internistin. Sie ist auf Psychosomatik spezialisiert.
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STANDARD: Was tun?

Rüth-Dressel: Neue Versorgungsmodelle finden. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, sich am Schema der Primärversorgungszentren zu orientieren – nur eben spezifisch für Kinder. Dafür wären neben dem politischen Willen auch entsprechende unbürokratische, rasche Gesetzesänderungen nötig. Dort könnten sich Kinderärzte die Arbeit untereinander aufteilen, man könnte andere Berufsgruppen mit einbinden, etwa Logopäden oder Ernährungsspezialistinnen. Es würde sicher auch sinnvoll sein, gewisse Untersuchungen in der Ordination vor Ort durchzuführen. In meiner Ordination konnte ich keine Blutbefunde machen, das Geld für die entsprechende Infrastruktur hat mir gefehlt. Wenn mehrere Ärzte gemeinsam arbeiten, ist das etwas anderes.

STANDARD: Sie stehen kurz vor der Pension. Sie könnten sagen: Hinter mir die Sintflut.

Rüth-Dressel: Könnte ich, aber ich schaffe das auch gegenüber den Eltern nicht. Seit sechs Monaten suche ich eine Nachfolge, der ich meine Patienten übergeben kann. Aber es klappt nicht. Das ist mit ein Grund, warum ich jetzt aktiv geworden bin.

STANDARD: Aktiv inwiefern?

Rüth-Dressel: Mit der Initiative "Kindertisch". Nach meinen Recherchen sind die Verantwortlichen im Gesundheitssystem mehrheitlich Männer in den besten Jahren. Ich will ihnen die Möglichkeit geben, mit den Menschen, deren Gesundheitsversorgung in ihren Händen liegt, in Kontakt zu kommen. Ende September lade ich zum Gespräch in meine Ordination ein und hoffe, dass sich zwischen den Leuten, die Verantwortung tragen, und der Bevölkerung eine Diskussion ergeben wird. Und hoffentlich auch Lösungen, damit die Lage im Sinne der Gesundheit zukünftiger Generationen besser wird. Als ich in den Beruf eingestiegen bin, gab es zu viele Kinderärzte. Heute will keiner mehr den Job machen. Irgendetwas ist da sehr schiefgelaufen. (Karin Pollack, 3.9.2019)