In Jammu patrouillieren indische Soldaten in den Straßen.

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In Srinagar rufen Frauen Freiheitslogans vor dem Eingang einer Moschee, wo sie zu Beginn des Opferfests Eid al-Adha beten wollen.

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Am Montag sind die Shops wieder geschlossen, an den Eingängen von Moscheen stehen indische Soldaten Wache, Absperrungen aus Maschendraht sind in Srinagar und anderen Städten in Jammu und Kaschmir zu sehen. Zu Beginn von Eid al-Adha, also dem muslimischen Opferfest, verschärfen die indischen Behörden die Ausgangssperre in der Unruheprovinz Kaschmir wieder. Seit Tagen kam es in verschiedenen Orten, vor allem in Srinagar, immer wieder zu Protesten. Und das, obwohl die Regierung massive Maßnahmen gesetzt hat, um ebendiese zu verhindern.

Doch schon am Freitag hatten sich nach den Freitagsgebeten an die zehntausend Menschen auf den Straßen versammelt. Sie protestieren gegen die Entscheidung der Regierung, dem (Noch-)Bundesstaat Jammu und Kaschmir diverse Sonderrechte zu streichen – zusammengefasst in der Verfassung unter Artikel 370. Kaschmir ist die einzige Provinz in Indien, in der die Mehrheit der Bevölkerung Muslime sind. Auch am Sonntag forderten auf den Straßen wieder Hunderte "Freiheit" von Indien und die Wiedereinsetzung des Sonderstatus.

Am Wochenende hatte die Regierung die Sperren etwas gelockert, um Menschen Einkäufe und Vorbereitungen für das Fest zu ermöglichen. Doch schon ab Sonntagnachmittag patrouillierten wieder tausende Militärs und schickten die Menschen nach Hause. Zumindest am Freitag setzten sie laut BBC und Reuters auch Tränengas und Schlagstöcke gegen Demonstranten ein – die wiederum zuvor mit Steinen geworfen hatten.

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Weder der indische Innenminister Amit Shah noch Premierminister Narendra Modi von der Hindu-nationalistischen BJP wollten die Vorfälle bestätigen. Vielmehr strengt sich die Regierung seit Beginn der Krise an, die Region so weit wie möglich abzuriegeln. Seit acht Tagen ist eine Internet- und Mobilfunksperre verhängt, viele Lokalpolitiker stehen unter Hausarrest.

Bereits wenige Tage bevor Shah am vergangenen Montag die Aussetzung des Artikels 370 verkündete, wurden Touristen per Terrorwarnung angewiesen, die Region zu verlassen. Zehntausende Soldaten der indischen Armee wurden im Gegenzug in die Region verlegt.

Alte Forderung der BJP

Die BJP hatte schon lange die Abschaffung von Artikel 370 gefordert. Die Partei sieht in dem Artikel ein Hindernis für die Entwicklung der Region und eine Diskriminierung von Indern ohne permanenten Wohnsitz in Kaschmir. In ihrer Argumentation ist der Sonderstatus an der schlechten Wirtschaftslage und Arbeitslosigkeit schuld. Erst in ihrem Wahlprogramm vom April betonte die BJP wieder, dass bereits ihre Vorgängerpartei die Abschaffung des Artikels 370 gefordert hatte.

Seite 14 des Wahlprogramms der BJP vom April 2019.
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Kritiker der Regierungspolitik sehen den umstrittenen Artikel nicht als Diskriminierung, sondern vielmehr als Einhaltung eines historischen Versprechens: Denn dass sich Kaschmir 1947 überhaupt Indien angeschlossen hatte und nicht Pakistan, lag eben auch an jenen Sonderrechten. Die Region war bei der Auflösung der britischen Kolonialreichs ein Fürstenstaat. Deren hinduistischer Maharadscha Hari Singh konnte entscheiden, ob er sich dem neu gegründeten Pakistan oder Indien anschließen wolle.

Schon damals waren fast 80 Prozent der Bevölkerung muslimisch. Singh wollte anfangs den unentschiedenen Status quo beibehalten. Er stand aber rasch unter Druck, weil pakistanische Stammesgruppen angriffen und er die indische Armee um Hilfe bitten musste. Die indische Führung wiederum forderte, dass Kaschmir sich Indien anschließe. Auch eine mögliche Volksabstimmung stand im Raum – und wurde auch von der Uno angeraten. Eine solche wurde aber nie durchgeführt. In der Folge wurde aber ein Sonderstatus ausgehandelt: Außenpolitik, Verteidigung, Finanzen und Kommunikation blieben Sache der Regierung in Delhi. Alle anderen Fragen wurden durch eine eigene Verfassung geregelt.

Immer wieder Krieg

In den folgenden Jahrzehnten kam es in Kaschmir wiederholt zum Krieg zwischen Pakistan und Indien. 1972 einigte man sich auf eine Waffenstillstandslinie, die "Line of control". In den 1990er-Jahren kam es wieder häufiger zu Gewalttaten, 1998/99 in der Kargil-Krise zu einem weiteren offenen Ausbruch der Kämpfe. Sowohl Indien als auch Pakistan waren zu der Zeit zu Atommächten aufgestiegen, der Konflikt nahm ein neues Ausmaß der Bedrohung an. 2003 gab es wieder einen Waffenstillstand.

In den vergangenen Jahren haben sich die Spannungen in Kaschmir abermals verschärft. Vor allem Jugendliche ohne Perspektive äußerten den Frust über die aus ihrer Sicht zunehmende Marginalisierung. Ein Angriff auf eine indische Militäreinheit mit mehreren Toten im Februar ging zum Beispiel auf das Konto eines lokalen Jugendlichen. Vor allem seit 2014 die BJP an die Macht kam, klagen Muslime in der Region über verschärfte Repressionen.

Die Macht der BJP

Bei den vergangenen Wahlen in Indien im Mai konnte ebenjene Regierungspartei ihre Mehrheit im Parlament noch einmal ausbauen. Die BJP stellt zudem neben dem Premierminister seit 2017 auch den Staatspräsidenten. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, am 5. August den Sonderstatus Kaschmirs zu streichen. Denn eigentlich bräuchte jede den Status von Jammu und Kaschmir betreffende Änderung die Zustimmung des Bundesstaats. Allerdings behalf sich die politische Führung mit einem Präsidentenerlass. Ob das verfassungskonform ist, darüber streiten Experten. Wahrscheinlich wird das der Oberste Gerichtshof klären müssen.

Durch die neue Situation wird die Region ab 31. Oktober kein Bundesstaat mehr sein, sondern ein "Union Territory", das weitgehend der Zentralregierung in Delhi untersteht. Der Region wurde aber ein lokales Parlament versprochen. Unterschied bleibt jedoch, dass nun Delhi zum Beispiel entscheiden kann, ob ein Ausnahmezustand über die Region verhängt wird. (saw, 12.8.2019)