Hat schon fünf Alben aufgenommen und dennoch die ganz große Zukunft noch vor sich: Mitski, hier live in London.

Foto: Imago / Zuma Press

Liebe und Herzscheiße sind im echten Leben selten so gewaltig, wie es uns ein richtig guter Popsong für drei Minuten glauben lassen kann.

Die 28-jährige Mitski Miyawaki schreibt solche richtig guten Popsongs, deren Subjekte fühlen und leiden wie niemand je zuvor. Sie ist die Indierock-Heldin der Stunde, die aktuelle Stimme der emotionalen Unvernunft. Ihr 2018 erschienenes, bereits fünftes Album Be the Cowboy fand sich in vielen musikalischen Jahresbestenlisten des Vorjahres wieder. Ihr Songwriting vermag es, dass sich erwachsene Hörer und Hörerinnen in den Zustand der Pubertät zurückversetzt fühlen, als die Gefühle noch kompromisslos und aufrichtig, realitätsfern und überlebensgroß waren.

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Mitskis Songs sind exzellente poetische Kurzgeschichten mit lapidaren Einstiegen, die sofort starke, bekannte Bilder hervorrufen. "Does ist smell like a school gymnasium in here?", beginnt sie ihren Song Two Slow Dancers, und sofort befindet sich der an amerikanischer Popkultur geschulte Hörer in einem Highschool-Turnsaal, der für die Prom-Night, also den Jahresabschlussball, kitschig umdekoriert wurde.

"My god I'm so lonley / So I open the window / To hear sounds of people", steht am Anfang der discoesken Nummer Nobody und evoziert mit einem Schlag ein Gefühl der Einsamkeit, das andere Songschreiber nicht in hundert Jahren erreichen. Iggy Pop beschrieb Mitski als vielleicht avancierteste amerikanische Songschreiberin, die er kennt.

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Kunst und Konstruktion

Ihren Songs merkt man an, dass sie keine Zufallsprodukte sind oder auf spontanen Einfällen basieren. Sie sind sowohl musikalisch als auch textlich eher gefertigt als hingeschrieben. Gerade die punkige Unverblümtheit der Lieder ist also Ergebnis kunstfertiger Konstruktion; Sie verleiht ihnen eine gewisse Distanz, die sie nie peinlich oder zu rührselig wirken lassen. Auch Mitskis Stimme mäandert fast geistesabwesend über die umwegigen Melodien; Sie hat etwas Luftiges, Erhabenes und gleichzeitig Erschöpftes.

Mitskis Songs haben jene cineastische Qualität, die sie ideal für den Soundtrack eines Indiefilms – Genre: Coming of Age – machen würden, sie erreichen die Grandezza von Arcade Fire oder St. Vincent circa anno 2010. Mitski trat mit ihrer Band bereits als Vorgruppe für die Pixies oder Lorde auf; zwei durchaus unterschiedliche Pole, zwischen denen sie sich bewegen kann – Rockgitarre und Avant-Pop reichen einander hier die Hand.

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Bevor Mitski am New Yorker Purchase College Musik studierte, lebte sie in 13 verschiedenen Ländern; Zugehörigkeitsgefühl oder der Mangel desselben spielen in ihren Liedern eine Rolle, auch weil sie als Tochter einer Japanerin und eines Amerikaners in zwei verschiedenen Kulturkreisen aufgewachsen ist.

Blüte des weiblichen Indierock

Zwei Alben veröffentlichte sie bereits während ihres Studiums, mit ihrem dritten, Bury Me at Makeout Creek, wurde sie zum Kritikerliebling. Nicht zuletzt, weil man ein erneutes Aufblühen des bereits totgesagten Genres Indierock unter weiblicher Führung erhoffte und erahnte.

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Diese Entwicklung zeichnete der Guardian-Musikkritiker John Harris 2018 in seinem vielbeachteten, aber etwas reißerisch betitelten Artikel "For rock music to survive it will have to cut back on testosterone" nach. Innovatives Songwriting sei laut ihm in den letzten Jahren vor allem von Musikerinnen gekommen – zum Beispiel von Courtney Barnett oder der bereits erwähnten Annie Clark alias St. Vincent.

Harris zitiert in seinem Artikel auch Kurt Cobain, der einmal über seine tröstliche Gewissheit, dass Frauen die Zukunft von Rock 'n' Roll seien, geschrieben hatte. Mitski, die vielleicht nicht ganz dem Rock-'n'-Roll-Begriff entspricht, den sich Cobain womöglich vorgestellt hat, gehört wohl gerade deswegen, gerade weil sie es anders macht, zu dieser sicheren Zukunft. (Amira Ben Saoud, 13.8.2019)