Spaß mit dem Körper haben: Im Bad übertauchen Martin und Nadine ihre Krebserkrankungen – aus der Krankheit auftauchen, könnte man sagen.

Foto: Mike Vogl

Es ist 12:30 Uhr, strahlender Sonnenschein. Prachtvolle Bergkulisse, klare Luft, die Vögel zwitschern. Die Gänge im Kinder- und Jugendrehabilitationszentrum Leuwaldhof in St. Veith im Pongau sind leergefegt. Nur eine Mutter steht beim Pflegestützpunkt in der Mitte des Wohntrakts und zeigt der diensthabenden Pflegerin Bettina Höfler das Fieberthermometer.

"37,3 Grad. Können wir bitte ein Blutbild machen?", sagt sie mit flehentlichem Blick. Ihr kleiner Sohn (6) liegt auf dem Sofa. Sie hat Fieber gemessen, ein Ritual, das sie während der letzten neun Monate Chemotherapie ohnehin ständig macht. Weil erhöhte Temperatur ein Zeichen für einen Infekt sein kann. Und damit lebensgefährlich, wenn das Immunsystem nur sehr eingeschränkt funktioniert.

"Hustet er?", fragt Höfler mit großer Ruhe. "Nein, aber seine kleine Schwester war ja gestern zum ersten Mal in der Leuwaldhof-Kindergruppe und könnte sich doch irgendetwas von den anderen dort eingefangen haben", antwortet die Mutter. Höfler nickt: "Ich werde gleich mit dem Arzt sprechen."

Sie versichert, sofort Bescheid zu geben. Diese Worte beruhigen die Mutter erst einmal. Sie verschwindet zurück in ihr Apartment. Pflegerin Bettina Höfler berichtet Gabi Sanio, der Pflegedienstleiterin im Leuwaldhof, die gerade vorbeigekommen ist, über die Situation.

Sie hat früher auf einer kinderonkologischen Station gearbeitet und kennt die Situation dieser besorgten Mutter. Alle Eltern, die neu hierherkommen, haben eine schwere Zeit hinter sich, haben monatelang versucht, ihre immunsupprimierten Kinder vor möglichen Ansteckungen zu schützen, was oftmals eine soziale Isolation bedeutete.

Sie haben komplizierte medizinische Anweisungen befolgt, auch zu Hause, denn die Krebstherapie findet heute nur punktuell im Spital und über weite Strecken daheim statt. "Diese Mama will sich versichern, dass wir alles, was ihr Kind brauchen könnte, auch hier haben", sagt sie und meint die Möglichkeit, jederzeit ein Blutbild zu machen, um mögliche Infektionen abzuklären.

Zwischen krank und gesund

Der Leuwaldhof sieht zwar eher wie ein kinderfreundliches Wellnesshotel aus, hat aber viel medizinische Infrastruktur versteckt. Ein Blutlabor zum Beispiel, ein Krankenbett, Infusomaten, sämtliche Medikamente und Antibiotika – eben alles, was ein krebskrankes Kind brauchen könnte.

"Wir sind eine Zwischenwelt zwischen Akuttherapie und dem wieder normalen Leben", sagt Sanio. Reha-Familien haben viel hinter sich, es gehe darum, wieder ein bisschen Leichtigkeit zurückzuerobern. Kein einfacher Weg.

Koordination üben, Selbstvertrauen gewinnen: Die Kletterwand im Haus ist beliebt.
Foto: Mike Vogl

Es gibt vieles, was die Kinder- und Jugend-Reha inmitten der Salzburger Berge besonders macht. Erstens: Es ist die erste Einrichtung, die Rehabilitation für Kinder und Jugendliche nach Krebserkrankungen in Österreich anbietet – dafür haben viele Menschen viele Jahre lang gekämpft (siehe Info-Kasten unten).

Zweitens: Alles hier wurde, so der Errichter und Betreiber Vamed, nach Prinzipien eines "Healing Environment" geschaffen. Alles, was es hier gibt, soll zur Motivation, zur Bewegung und zum Wohlbefinden beitragen. So hat die Vamed auf fünf Geschoßen 1200 Kubikmeter Holz verbaut. Das riecht man, wenn man durch die Gänge geht – es sieht zwar nicht aus wie auf einer Alm, fühlt sich aber so an.

Außerdem gibt es ein Fitnesscenter, eine große Turnhalle, ein Schwimmbad, eine Indoor-Kletterwand, einen Wasserspielplatz, Höhlen, Gemeinschafts- und Rückzugsräume. Es gibt sogar einen Kindergarten und eine Schule. Dort findet momentan kein Unterricht statt. Es ist Ferienzeit. Gleich neben der Terrasse, auf der zu Mittag gegessen wird, spielen die Jugendlichen vormittags dafür Basketballplatz.

Gustav Fischmeister, der ärztliche Leiter des Leuwaldhofs, im Gespräch mit einem Geschwisterkind – in der Reha wird die ganze Familie behandelt.
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Die dritte Innovation hier im Leuwaldhof ist die Tatsache, dass nicht nur die von der Chemo, den Operationen und Bestrahlungen geschwächten Kinder und Jugendlichen wieder aufgepäppelt werden, sondern dass auch ihre Eltern und Geschwister Behandlung bekommen.

Familienorientierte Therapie, so der Fachbegriff, auf Kosten der Krankenkassen. "Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, wie wirksam dieser therapeutische Ansatz ist", sagt Gustav Fischmeister, der den Leuwaldhof mit einem jungen Team aus Ärztinnen, Pflegekräften, Psychologinnen, Physiotherapeutinnen, Ergotherapeutinnen, Logopädinnen, Sozialarbeiterinnen, Lehrerinnen führt: "Sich nach der Krise rund um die Diagnose und Therapie wieder wohlfühlen lernen", nennt Fischmeister als Therapieziel.

Er selbst hat viele Jahre im St. Anna Kinderspital in Wien gearbeitet und kennt alle schwierigen Facetten der Krebserkrankung. Nicht nur medizinisch. Immer wieder verlieren Eltern ihren Job durch die monatelange Krankenpflege der Kinder, damit kommen dann plötzlich auch Geldsorgen auf. Und als ob das nicht genug wäre, schotten sich viele auch vor Freunden und Familie ab, um jede Ansteckungsgefahr zu vermeiden.

Sofort Alarmstimmung

"Beim Erstgespräch gleich nach der Ankunft schaue ich mir deshalb immer die ganze Familie an, versuche die Dynamik zu verstehen, die die Erkrankung bei allen ausgelöst hat", sagt Fischmeister und erzählt von Müttern, die ihre Kinder keine Sekunde aus den Augen lassen, die bei jedem "Ich habe Kopfweh" in Alarmstimmung versetzt werden.

Auch auf die Geschwisterkinder geht er ein. Weiß, dass die meisten sprachlos danebensitzen, weil sie gelernt haben, zurückzustecken. "Auch das kann langfristig gesundheitliche Folgen haben", sagt er. Und ganz nebenbei erwähnt er, dass sich die Eltern krebskranker Kinder nach der akuten Krankheitsphase nicht selten langfristig auch voneinander trennen.

Das Reha-Zentrum Leuwaldhof oberhalb von St. Veit im Pongau.
Foto: Mike Vogl

Deshalb empfiehlt er selbst all jenen, die nicht an "Psychosachen" glauben ("das Wichtigste ist nur, dass mein Kind gesund ist, alles andere ist egal"), eine Therapieeinheit bei den hauseigenen Psychologinnen. Nicht nur die ehemals Kranken, sondern auch ihre Angehörigen sollen wieder zu Kräften kommen. Psychisch und physisch, "dazu sind wir da", sagt er und bespricht jeden einzelnen Reha-Gast mehrmals pro Woche im interdisziplinären Team.

Die kleine Elina zum Beispiel, die in ihrem Arm einen aus dem Bein implantierten Knochen hat, weil an einem Knochen der Hand ein Osteosarkom dessen Substanz zerstörte. Sie wird hier ihre Beweglichkeit trainieren, spielt gerne Ball, aber die Physiotherapeutin im Turnsaal soll aufpassen, "dass ihr niemand den Ball mit großer Wucht draufwirft", ruft Fischmeister der Physiotherapeutin zu. Vor allem, weil sich auch die Eltern vor einer möglichen Verletzung fürchten.

Aber Elina ist ein Bewegungstalent, will mitspielen. Physiotherapeutin Alma Sperling versichert, dass das Turnen besonders wichtig ist, weil man lernt, wieder seinen ganzen Körper einzusetzen, auf andere zu reagieren – "das verlernt man, wenn man monatelang im Bett liegt", sagt sie. Auch die Begleiteltern werden aus diesem Grund aufgefordert, bei den Ballspielen teilzunehmen, weil auch sie ihre körperliche Fitness meistens vernachlässigt haben.

"Es geht in den Therapieeinheiten bei mir nicht darum, zurückzublicken, sondern darum, in die Zukunft zu schauen", sagt auch Psychologin Janina Borbely, die immer wieder feststellt, wie sehr die Eltern durch die Erkrankung ihres Kindes zurückgesteckt haben. "Wo holen Sie sich Kraft?", fragt sie dann, und viele beginnen spätestens bei dieser Frage zu weinen.

Autonom werden. Auf dem Traktor weit weg von den Eltern unterwegs.
Foto: Mike Vogl

"Selbstfürsorge lernen ist ein Prozess, und die vier Wochen bei uns sind eine gute Zeitspanne, sie zu entdecken", sagt Borbely. Viele Eltern gehen dann hier eine Runde laufen, lesen ein Buch und lassen die Kinder zum ersten Mal seit Monaten wieder alleine rumlaufen.

"Loslassen, den Kindern ihre Autonomie zurückgeben, sie wieder eigenständig werden lassen ist ein wesentliches Ziel", bestätigt auch Gustav Fischmeister, der sich freut, dass sich beim Essen eine kleine Jugendgruppe gebildet hat, die sehr eigenständig unterwegs ist und sich am Vortag die Erlaubnis geholt hat, aufs Platzfest unten in St. Veit – zehn Gehminuten entfernt – gehen zu dürfen.

Zur jugendlichen Kerngruppe gehört Martin (16), er hat einen Hirntumor hinter sich und im Leuwaldhof an seiner Koordination und Feinmotorik gearbeitet. "Man fühlt sich wohl, weil man sieht, dass man nicht der Einzige mit so einer Erkrankung ist", sagt er, und Nadine (18), ehemals an Morbus Hodgkin, einem Lymphknotenkrebs, erkrankt, nickt.

Gesund werden ist auch ein Balance-Akt: Michael und Nadine nach dem Mittagessen beim Slacklining – abends gehen sie hin und wieder ins Dorf.
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"Ich hab nach dem Ende der Chemo gedacht, ich brauch das alles nicht, wollte nur zurück in die Schule", aber dort habe sie dann gemerkt, dass sie einfach nicht und nicht in die Gänge kam. "Wenn du so krank warst, ist es wirklich schwer, wieder Motivation zu finden", sagt sie, und die Therapeutinnen im Leuwaldhof helfen ihr dabei.

Abwehrkraft aufbauen

An der Motivation scheint es Michael (18) wiederum nicht zu mangeln. Er hat trotz der Erkrankung gerade seine Matura geschafft. Seine Chemo liegt noch nicht lange zurück, die Haare beginnen gerade erst wieder nachzuwachsen. Für ihn geht es hier vor allem darum, körperlich wieder fit zu werden. Er trainiert gerne, radelt im Fitnessraum und findet es praktisch, dass er hier auf seine Erhaltungstherapie eingestellt wird.

Nach der achtmonatigen akuten Phase der Krebstherapie wird Julian noch weitere eineinhalb Jahre zellgiftige Tabletten schlucken müssen, für den Fall, dass es einige wenige Leukämiezellen geschafft haben, der Hochdosis zu entgehen. Normalerweise hätte er dafür ins Spital fahren müssen, erzählt er, hier gehe das quasi so nebenbei.

Ein bisschen leid tut es ihm, dass er noch nicht ins Schwimmbad durfte. Das liegt an der Anzahl seiner Leukozyten, die dem Onkologen Fischmeister über Michaels Abwehrkraft Auskunft geben. Kinder, die krank waren, werden in drei unterschiedliche Kategorien eingeteilt: leicht, mittel und stark immunsupprimiert.

Michael zum Beispiel ist erst im mittleren Bereich und darf – sehr zu seinem Leidwesen – auch noch keine Salami essen. Martin und Nadine sind in der Hinsicht besser dran. Sie dürfen sogar schon auf den Bauernhof zur Pferdetherapie und auch mit dem Therapiehund (der einer der Psychologinnen gehört) Kontakt haben. Auch das ist Teil der Reintegration.

"Wir hatten eine Familie, die ist ausgerastet, weil eine Fliege im Speisesaal über das Essen ihres Sohnes gekrabbelt ist", erinnert sich Pflegedienstleiterin Gabi Sanio. Am Ende der vier Wochen seien sie dann aber schon sehr entspannt gewesen, sagt sie.

Und das sei auch das Schöne am Leuwaldhof: "Dass die, die hierherkommen, nach vier Wochen als andere Menschen wieder nach Hause fahren. Man sieht jedem Menschen die Kraft und die Energie, die er in sich hat, an", sagt sie. Stärken und das Vertrauen in den Körper wiedergewinnen, darum gehe es – und Sorgen und Ängste "im Vorbeigehen erkennen", identifizieren, ernst nehmen und reagieren.

Seit der Eröffnung im April 2018 habe das bereits bei über 200 Reha-Leuten geklappt. Und übrigens: Die Sorge der Mutter vom Mittag war dann schnell wieder verflogen, auch ohne Blutbefund. Ihr kleiner Sohn wollte plötzlich raus und mit dem kleinen Traktor fahren. "Warte, Mama, ich komm gleich, ich muss nur noch den Motor da reparieren", ruft er ihr zu, fährt um die Ecke. Die Mutter schließt die Augen, atmet tief ein und bleibt in der Sonne stehen. (Karin Pollack, CURE, 20.8.2019)