Mit Genetik Geschäfte machen: Markus Hengstschläger und Barbara Prainsack sind beide in der Bioethikkommission und arbeiten gegen derlei Ideen.

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STANDARD: Wie sehr bestimmen die Gene über unser Leben?

Markus Hengstschläger: Für das, was den Menschen in Gesamtheit zum Menschen macht, werden meiner Ansicht nach Gene oft überschätzt. Im Bereich der medizinischen Genetik kennen wir einerseits monogene Krankheiten, bei denen ein verändertes Gen zu einer Erkrankung führen kann. Davon kennen wir ein paar 1000, zumeist sind sie selten. Auf der anderen Seite gibt es die multifaktoriellen Erkrankungen, bei denen neben den Genen auch Umweltfaktoren eine sehr große Rolle spielen, wie etwa bei Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auch bei Parkinson und Alzheimer. Bei Letzteren kann man, wenn überhaupt, über genetische Testung meist nur etwas über die Wahrscheinlichkeit eines späteren Auftretens machen.

STANDARD: Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat große Erwartungen geweckt. Wurden Sie enttäuscht?

Barbara Prainsack: Jede große Entwicklung weckt große Erwartungen, die nicht alle erfüllt werden können. Das war auch beim Humangenomprojekt der Fall. Aber es war zweifelsfrei ein riesiger Innovationsmotor, der weit über die klinische Genetik hinausgeht. Wir haben sehr viel gelernt.

STANDARD: Man hatte gehofft, einen Schaltplan für den menschlichen Körper zu bekommen. Ist das geglückt?

Hengstschläger: Das Genomprojekt hat sowohl grundlagenwissenschaftlich als auch technologisch vieles ausgelöst. Vor zehn Jahren hat das Sequenzieren eines Genoms lange gedauert und war sehr teuer. Heute kostet es etwa 1000 Dollar und dauert ein bis drei Tage.

Prainsack: Es gab das Bild vom Genom als "Buch des Lebens". Man dachte, wenn man die Buchstaben beherrscht, dann kann man das Buch lesen. Aber das ist irreführend, denn das Genom ist kein Buch. Ich sehe es vielmehr als abstraktes Gemälde, das wir erst lernen müssen zu deuten. Die großen Datenmengen allein werden uns nicht heilen. Die Herausforderung ist die Interpretation.

STANDARD: Es gibt bereits sehr billige Gentests aus dem Internet. Würden Sie diese empfehlen?

Hengstschläger: Die Bioethikkommission, die sich mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt hat, hat dabei unter anderem auf die Wichtigkeit der medizinischen Begleitung der Ratsuchenden hingewiesen. Im österreichischen Gentechnikgesetz ist vorgesehen, dass im Zuge medizinischer genetischer Diagnostik auch entsprechende genetische Beratungen stattfinden müssen.

"Die Technologie hinter der Gentherapie per se ist weder gut noch böse, es kommt darauf an, was man damit macht." Markus Hengstschläger
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Prainsack: In manchen Staaten hat man versucht, solche Online-Gentests zu verbieten. Aber das bindet ja nur die Anbieter, den Kunden kann man nicht das nicht effektiv untersagen. Es gibt jedoch auch die Meinung, dass man durch solche Analysen – auch wenn sie keinen klinischen Nutzen haben – viel über Krankheiten und Gesundheit lernen kann. Wenn etwa bei der Analyse meiner Augenfarbe herauskommt, dass sie zu 80 Prozent blau ist, und ich braune Augen haben dann ist das eine natürliche Entmystifizierung dieser Tests. Solange nicht völlig ungerechtfertigte Versprechen gemacht werden, ist dagegen meiner Ansicht nach auch nichts einzuwenden. Problematisch ist es dann, wenn jemand mit solch ungenauen Testergebnissen zum Kassenarzt läuft und sagt, dass er sich fürchtet. Dann muss das öffentliche Gesundheitswesen ausbaden, was der kommerzielle Sektor angerichtet hat.

STANDARD: Wer bezahlt in Österreich Gentests?

Hengstschläger: Wenn ein Facharzt oder eine Fachärztin im Zuge einer genetischen Beratung eine medizinische Begründung dafür findet, dann sollte die Diagnostik von der Krankenkasse bezahlt werden.

STANDARD: Ich könnte also einfach so mein Alzheimer-Risiko testen lassen?

Prainsack: Alzheimer ist eine multifaktorielle Erkrankung. Hier ist der Zusammenhang zwischen den genetischen Markern und den Symptomen sehr komplex. Es ist sehr fraglich, ob ein solcher Gentest für Sie sinnvoll ist.

STANDARD: Welche Gentests machen Sinn?

Hengstschläger: Es gibt sehr viele verschiedene Arten sinnvoller genetischer Untersuchungen: zum Beispiel, wenn eine bereits vorliegende Erkrankung abgeklärt werden soll, oder im Rahmen einer Tumordiagnostik. Sogenannte prädiktive genetische Tests können Voraussagen über das spätere Eintreten von Erkrankungen machen, was immer dann besonders sinnvoll ist, wenn die Aussagekraft hoch ist und man auch tatsächlich etwas dagegen tun kann. Es kann aber auch sein, dass es eine genetische Erkrankung in der Familie gibt, man aber nicht wissen will, ob man sie bekommt. Dieses Recht auf Nichtwissen halte ich auch für sehr wichtig.

Prainsack: Manchmal weiß man allerdings gar nicht, was man nicht wissen will. In den USA machen viele Menschen genetische Tests über ihre biogeografische Abstammung. Bei manchen Anbietern bekommen sie aber auch gleich die Analyse ihrer Gesundheitsdaten mit. Vielleicht wollten sie nur wissen, ob ihre Vorfahren aus Skandinavien oder Osteuropa gekommen sind, und dann erfahren sie ihr erhöhtes Risiko für Herzinfarkt oder Brustkrebs. Ein anderer Problembereich sind die Zufallsbefunde bei klinischen Tests. Hier stellt sich die ethisch relevante Frage: Soll man das dann den Menschen mitteilen oder nicht?

STANDARD: Wie stehen Sie zu der Idee, alle Menschen zu screenen, um frühzeitig Krankheiten feststellen zu können?

Hengstschläger: Für die Anwendung von Screening-Ansätzen sollten aus meiner Sicht bestimmte wissenschaftliche Kriterien eingehalten werden. Der Sinn davon sollte stets entsprechend dem aktuellen Stand der Wissenschaft diskutiert werden. Und Aspekte wie genetische Beratung, Recht auf Nichtwissen, Datenschutz und viele mehr müssen dabei mitdiskutiert werden.

Prainsack: Es gibt Leute, die einen Paradigmenwechsel wollen. Die Befürworter der "kontinuierlichen Medizin" wollen weg von der sogenannten Schnappschussmedizin. Sie wollen Menschen nicht nur zum Zeitpunkt der gesundheitlichen Krise betrachten, sondern auch wenn sie gesund sind, also in einer Langzeitperspektive. Die unbeabsichtigten Effekte wären unter anderem, dass wir ein massives Problem mit Überdiagnosen bekämen. Überdiagnosen passieren heute schon, aber das Problem würde noch viel größer werden.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel geben?

Prainsack: Wir diagnostizieren etwas, was im Leben eines Menschen nie zu einem Problem führen würde. Ein typisches Beispiel ist Prostatakrebs bei sehr alten Männern. Oder wenn man in einem Ganzkörper-Body-Scan kleine Tumoren sehen würde, die von allein wieder verschwinden. Das kostet nicht nur unnötiges Geld, sondern verursacht auch psychische und körperliche Schäden.

"Es gibt Krankheiten, über die man nicht wissen will, ob man sie bekommt. Es gibt aber auch das Recht auf Nichtwissen." Barbara Prainsack
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STANDARD: Stichwort Designerbabys: Was sagen Sie aus ethischer Sicht dazu, das perfekte Kind quasi vom Reißbrett zu produzieren?

Hengstschläger: Ich glaube, dass Technologien wie etwa Genome Editing über CRISPR/CAS9 per se nicht gut oder schlecht sind. Für uns Genetiker ist es jedenfalls ein faszinierendes Werkzeug. Ich schließe mich allerdings dem breiten internationalen Konsens an, aktuell keine genetischen Veränderungen der menschlichen Keimbahn durchzuführen. Die Technologie führt noch zu vielen ungewollten Nebeneffekten, und die Veränderungen würden an die nächsten Generationen vererbt werden. Zum derzeitigen Augenblick sind die Auswirkungen und Folgen noch nicht entsprechend abschätzbar. Die gilt auch für die letztes Jahr in China angeblich durchgeführten Eingriffe. Der Forscher He Jiankui hat behauptet, die Embryonen von Zwillingen seien von ihm genetisch verändert worden, um sie resistent gegen HIV zu machen. Keimbahntherapien sind im Gegensatz zur somatischen Gentherapie in weiten Teilen der Welt rechtswidrig.

STANDARD: Welche Anwendungen der Genschere CRISPR/CAS9 befürworten Sie?

Hengstschläger: Bei der sogenannten "somatischen Gentherapie" werden genetische Veränderungen gezielt an einem Organ oder Gewebe durchgeführt. Diese werden auch nicht an die nächsten Generationen vererbt. Die Hoffnung ist, damit einmal bestimmte Formen von Krebs heilen zu können oder zum Beispiel in Kombination mit Stammzelltherapien eingeschränkte Organfunktionen wieder regenerieren zu können. Das halte ich für eine wirkliche Zukunftstechnologie. Eine differenzierte gesellschaftliche ethische Diskussion ist deshalb so wichtig, weil Gentherapie nicht per se gut oder böse ist. Es kommt darauf an, was man damit macht.

Prainsack: Die kategorisch unterschiedliche ethische Beurteilung von Keimbahn- und Nichtkeimbahntherapie halte ich als Modell für problematisch. Denn auch heute verändern wir schon nachfolgende Generationen, ohne dass diese ihre Zustimmung geben. Klassische Beispiele sind etwa die Partnerwahl oder die Entscheidung, wo ich meine Kinder aufwachsen lasse. Wenn wir die Umwelt verschmutzen oder Armut zulassen, verändern wir über epigenetische Mechanismen ebenfalls die nächsten Generationen. Das funktioniert jetzt natürlich nicht so zielgerichtet wie bei der Genom-Editierung, aber es findet täglich statt.

STANDARD: Gibt es aus ethischer Sicht einen Unterschied?

Prainsack: Der ethisch relevante Unterschied ist, dass wir eine neue Technologie haben, die extrem billig und niederschwellig ist. Theoretisch könnte man über sogenannten "Gene-Drives" – also manipulierten Vererbungsmustern – gezielt bestimmte Eigenschaften in die Population hineintreiben. Damit könnte man ganze Spezies verändern oder ausrotten. Derzeit wissen wir eigentlich nicht, welche Entscheidungsmechanismen hier adäquat sind. Wir befinden uns in einer Zeit, in der wir gleichzeitig genetisch und demokratisch experimentieren. (Andrea Fried, CURE, 9.12.2019)