Genau genommen sollte die kleine Serie über das, was man bei Morgen- oder anderen Läufen auf und entlang von Standardlaufstrecken so erleben, sehen oder an Eindrücken einsammeln kann, mit der Geschichte über den Frühlauf in den Prater abgeschlossen sein.

Nicht weil es nicht immer wieder Neues zu sehen gäbe, sondern einfach der Abwechslung halber.

Nur kommt es eben erstens anders – und zweitens als man plant. Und wenn da plötzlich – genauer: vorletzte Woche Dienstag – auf der Hauptallee ein paar Autos mehr als sonst unterwegs sind, alle 50 Meter anhalten und dann Männer mit wichtigen Mienen und noch wichtigerem Gehabe mit Messgeräten aussteigen, kann man ja wohl mal fragen, was hier passiert. Schließlich ist die PHA so was wie mein Hinterhof. Da darf man schon mal ein bisserl hausmeistern. (Erst recht, wenn schon der dritte Läufer vorbeirennt und ganz selbstverständlich meint, dass ich wissen müsse, was da passiert.)

Foto: thomas rottenberg

Also frage ich.

"Siehst du doch eh: Wir protokollieren und vermessen Schäden und Unebenheiten."

Ah ja. Und warum?

"Na wegen dem Weltrekord."

Oh, Eliud Kipchoge?

"Na, wenn du es eh weißt ... Wenn der hier rennt, muss die Strecke perfekt sein."

Mhm. Und das heißt genau?

"Wir vermessen und markieren. Ab morgen oder übermorgen wird dann entweder lokal ausgefräst oder der ganze Boden weggenommen. Und dann kommt ein neuer Belag."

Und wie lange dauert das?

"Kommt drauf an, wie viel zu tun ist – aber übernächste Woche sollte es alles fertig sein."

Foto: thomas rottenberg

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In meiner Welt muss man dazu jetzt nicht mehr allzu viel erklären. Schließlich ist Eliud Kipchoge seit ein paar Jahren das Maß aller Dinge im Lauf- und Marathonsport.

Der 34-jährige Kenianer gewinnt nämlich so gut wie jeden Marathon, bei dem er antritt – heuer etwa London. Im Vorjahr Berlin und London. 2017 Berlin und im Jahr davor auch schon London und Rio. Rio war – ganz nebenbei – olympisches Marathongold. Und falls ich das vorhin ausgelassen habe: 2018 stellte Kipchoge mit 2:01:39 beim Berlin-Marathon den aktuell gültigen Weltrekord über die 42,195 Kilometer auf. Wer es noch genauer wissen will, kann ja auf Wikipedia nachschauen. Oder eines der zahllosen Porträts des Ausnahmesportlers lesen.

Foto: Reuters/childs

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Doch die Berliner Marathon-Weltbestzeit ist längst nicht alles, was Kipchoge zur Legende macht: Im Mai 2017 trat er gemeinsam Lelisa Desisa und Zersenay Tadese in Monza auf dem Formel-1-Kurs an, um die "Schallmauer" von zwei Stunden über die Marathondistanz zu brechen. "Breaking2" nannte sich das Projekt, in das Nike verdammt viel Kohle und noch mehr Prestige butterte. Kipchoge verfehlte das Ziel um Haaresbreite: Er brauchte 2:00:25.

Dass diese Zeit nicht als Weltrekord anerkannt wurde – unter anderem weil ein Marathon per Definition ein Bewerb und kein maßgeschneidertes Pacer-Event für Superstars mit ihren Tempomachern ist –, ändert nichts daran, dass das eine unpackbare Leistung ist.

Nur um die Dimensionen anzudeuten: 42 Kilometer in zwei Stunden bedeuten ein Durchschnittstempo von 21 km/h. Die Laufbänder der meisten Fitnesscenter riegeln bei 17 km/h ab. Aber weil kaum ein Hobbyläufer je auch nur so schnell sprintet, weiß das fast niemand.

Foto: ap/bruno

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Dennoch: Wer so knapp an einer Traumgrenze scheitert, will es noch mal versuchen. Das ist so menschlich wie logisch. Und so begannen etwa ein halbes Jahr nach dem Versuch von Monza Gerüchte zu kursieren, dass es eventuell einen zweiten Versuch geben könne.

Ob das nur Blabla war, das sich selbstständig machte und nichts mit Kipchoges tatsächlichen Plänen zu tun hatte, oder doch schon gezielt in Umlauf gebrachte Testballons diverser Marketing- und Managementstrategen, lässt sich heute nicht mehr eruieren. Es ist auch belanglos. Denn mehr und Präziseres als "könnte sein und wäre doch irgendwie geil" kam nie. Auch der Ort eines etwaigen Neuversuchs war unklar. Bis zum Beginn dieses Sommers.

Foto: Reuters/bensch

Denn da baten die Macher des Vienna City Marathon zu einer Pressekonferenz, bei der sie nicht weniger als "eine läuferische Weltsensation" ankündigten. Und zwar gemeinsam mit Wiens Bürgermeister Michael Ludwig.

Die Sensation war tatsächlich eine: Kipchoge, hieß es, würde den zweiten Versuch, die zwei Stunden zu unterbieten, in Wien antreten. Im Optimalfall am 12. Oktober. Aber weil es da auf 1.000 Kleinigkeiten ankommt, halte man sich ein einwöchiges Fenster offen. Ach ja: Laufen würde der Superstar dort, wo auch unsereiner rennt – auf der Hauptallee.

Das Projekt würde diesmal kein Nike-Event sein, sondern einen anderen Sponsor haben: den britischen Chemiekonzern Ineos. Statt "Breaking2" heißt die Nummer nun "Ineos 1.59 Challenge" – aber so wie auch in Monza soll und wird möglichst nichts dem Zufall überlassen. Darum ist das Zeitfenster ja auch für eine ganze Woche angelegt. Und natürlich wird Kipchoge kein Solo hinlegen, sondern von rund 20 Pacern begleitet. Trotzdem: Laufen muss er selbst.

Foto: VCM / Michael Gruber

Für Wien, jubelte der Bürgermeister, sei das eine Megawerbung. Erstens einfach so – und natürlich auch als Lauflocation. Schließlich ist Eliud Kipchoge nicht irgendwer. Schon das Rambazamba, das Ineos bereits jetzt online abhält – etwa mit Kipchoges Trainingsnotizen –, ist de facto unbezahlbar. Weil es aber dennoch Schlüssel gibt, nach denen Image- und Werbewerte angeblich bemessen werden können, fragte ich vergangene Woche bei Ineos, ob es auch Zahlen gebe.

Foto: apa/pfarrhofer

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Tom Crotty, bei den Briten "Group Director for Corporate Affairs and Communications", antwortete: "The event will generate a significant economic benefit to Vienna in direct tourism revenue (for example, hotel rooms, restaurants etc). In addition, the value of the global media coverage of the event and Vienna (television, streaming and media) will be many millions of Euros – potentially more than 100 million if the two hour barrier is broken. The Prater and Vienna will then become a legendary venue in athletics history in the same way as the Iffley Road track in Oxford, the venue for the first sub four minute mile."

(Im Bild: Kipchoge mit Ineos-Gründer Jim Ratcliffe. Im Hintergrund ein Foto von Roger Bannister, der 1954 als erster Mensch eine englische Meile in weniger als vier Minuten lief).

Foto: ap/dunham

Genau genommen war der "Benefit" aber nur ein Nebenaspekt meiner eigentlichen Frage an die Ineos-Menschen gewesen: Nachdem am Dienstag die Vermesser und Markierer auf der PHA unterwegs gewesen waren, rückten am Mittwoch tatsächlich Baumaschinen an. Und zwar in einer Mann- und Fahrzeugstärke, die man sonst oft nicht einmal auf Autobahnbaustellen findet.

Am Donnerstag, als ich gegen sieben eine Morgenrunde lief, war Vollbetrieb – und an einigen Stellen schien der alte, rumpelige Belag schon fast fertig ausgetauscht zu sein.

Wow, dachte ich, das alles für einen einzigen Mann! Die nächsten beiden Fragen rief mir dann schon ein anderer Läufer in dem Augenblick zu, als ich sie auch selbst dachte: "Hast du eine Ahnung, was das kostet? Und vor allem: Wer zahlt das?"

Foto: thomas rottenberg

Ich reichte die Frage weiter. Zunächst an Andreas Maier, den VCM-Pressesprecher. Maier konnte keine Zahl nennen, betonte aber, dass "das alles Ineos zahlt. Wien entstehen keine Kosten – aber dafür wird die Hauptallee von Grund auf saniert: Hier zu laufen war ja schon lange nicht mehr optimal."

Seitens der Stadt bestätigte das dann sowohl das Büro des Bürgermeisters als auch die für Straßenbau zuständige MA 28: "Bei privaten Umgestaltungen des öffentlichen Raumes sind die Vorgaben und Regeln der Stadt Wien einzuhalten. Planung und Gestaltung müssen mit den Fachdienststellen der Stadt Wien abgestimmt werden. Ebenso hat die Stadt Wien bei der Umsetzung die Bauaufsicht. Bei der Genehmigung solch privat finanzierter Projekte wird besonderer Wert darauf gelegt, dass auch die Öffentlichkeit adäquat von den Maßnahmen profitiert."

Foto: thomas rottenberg

Dass "die Öffentlichkeit" von einer Hauptallee ohne Löcher, Frostschäden und Asphaltrisse profitiert, ist ziemlich sicher: Natürlich motschgerten ein paar Leute, dass sie wegen der Baustellen jetzt auf die (in Wirklichkeit viel sanierungsbedürftigeren) Nebenstreifen der PHA ausweichen müssten. Speziell am Rad ist das halt ein bisserl ungemütlich. Nur: Dass das vorübergehend ist, wissen natürlich auch die Nörgler. Aber wir sind in Wien: Irgendwer ist immer dagegen – und einen Grund zu jammern findet jeder von uns jederzeit. Ich kann das auch sehr gut.

Foto: thomas rottenberg

Trotzdem: Wie viel kostet es, die Hauptallee fit für Kipchoge zu machen? Das war meine eigentliche Frage gewesen. VCM und Rathaus hatten mich zu Ineos geschickt. Aber dort winkte man ab. Höflich, aber bestimmt. Auf ein zweites Nachfragen erklärte Tom Crotty dann, dass man diese Zahlen nicht publik machen werde: "The Mayor of Vienna gave permission for the event to take place on the chosen route which centres on The Prater Hauptallee. The full costs of the event will be covered by INEOS, the sponsors of the INEOS 1:59 Challenge; there will be no direct costs to the city of Vienna. This is a commercially funded event and the budget is not disclosed."

Foto: thomas rottenberg

Auch wenn ich natürlich immer noch gerne wissen würde, wie viel Geld Wien über Jahre nicht hatte, um täglich tausenden Läuferinnen und Läufern halbwegs gute Laufbedingungen zu gönnen, während ein Konzern in einer Woche eine perfekte Piste hinbügelt, ist das im Endeffekt tatsächlich egal: Kipchoge wird eine Mega-Laufparty abhalten. Und davor, aber vor allem danach werden wir "Locals" davon profitieren.

Und manche machen sich schon jetzt einen Spaß draus.

Etwa die Triathletin Tanja Stroschneider. Die kam zufällig vorbei, als der neue Belag gerade ausgebracht wurde, und fackelte nicht lange: "Wer braucht schon den 'Walk of Stars' in Hollywood, wenn man sich auch in Wien verewigen kann?", fragte sie – und hinterließ ihren Handabdruck im feuchten Asphalt.

Schließlich steht nirgendwo geschrieben, dass Eliud Kipchoge der Einzige ist, der auf der Hauptallee in die Geschichte eingehen darf. (Thomas Rottenberg, 14.8.2019)

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Foto: Wilhelm Lilge/Team2012.at