Bild nicht mehr verfügbar.

Meister der "akustischen Masken": Elias Canetti (1905-1994), Denker des menschlichen Verhängnisses.

Foto: First Look/picturedesk.com

"Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes." Der berühmte erste Satz von Elias Canettis Untersuchung Masse und Macht scheint idealtypisch dazu geeignet, Unbehagen zu wecken.

Das Buch, 1960 veröffentlicht, brauchte viele Jahre, um die ihm gebührende Anerkennung zu ernten. Canetti (1905-1994), der in London lebende Exilant, hatte sich nichts Geringeres vorgenommen, als ein von Massenbewegungen und Totalitarismus gezeichnetes Jahrhundert "an der Gurgel zu packen": ein undankbares Geschäft. Der aus Bulgarien stammende jüdische Kaufmannssohn verschlang Unmengen an ethnografischer Literatur, ehe er, Autor des Romans Die Blendung (1936), alle Anregungen und Inputs gleichsam selbsttätig verdampfte.

In Masse und Macht steckt vor allem Canetti selbst. Mit einer Unbarmherzigkeit, die bis heute ihresgleichen sucht, schloss er mythische Befunde und empirische Evidenzen zu einer Art Ur-Dichtung zusammen. Indem die Menschen Berührungsangst verspüren, finden sie sich in Massen zusammen.

Das beruhigende Bad

Nur wenn der Mensch in der Masse aufgeht, sich auf allen Seiten von anderen umgeben weiß, fühlt er sich aufgehoben. Es gibt offene und geschlossene Massen, nicht zu vergessen die "unsichtbaren". Allen eigen ist die Tendenz zu ungeregeltem Wachstum. Unter der Zuhilfenahme von Massensymbolen wird zum Beispiel das jeweilige Nationalbewusstsein ausgebildet.

Dies alles bleibt verstehbar nur unter der Androhung der Macht und ihrer Wirkungen. Hinter der Bewegung von "Eingreifen", "Einverleiben" und "Verdauen" steckt die Urangst, von jemand anderem verschlungen zu werden. Tiere empfangen durch ihre (tierischen) Feinde den Impuls zur Flucht. Das Leben ist im Wesentlichen "als Darm" angelegt. Und es fällt nicht schwer, Canettis suggestive Spekulationen über das Wesen des "Befehls", des "Stachels", den er beim Angeherrschten hinterlässt, und die Funktion des "Lächelns" auf die Nötigung zum Konsum zu beziehen.

Antipoden wie Theodor W. Adorno haben den Dichter nachdrücklich auf die zeitliche Bedingtheit seiner Analysen aufmerksam gemacht. Mit Blick auf den heutigen Populismus bleibt Canettis Intuition alarmierend, dass alle gleicherweise die Furcht vor dem Gefressen-Werden umtreibt. Der Ewigkeitston von Canettis Verlautbarungen ist der eines Propheten, der am liebsten den Skandal des Todes durch eine Politik der ewiggültigen Verlautbarung ausgelöscht hätte.

Der Ekel vor der Macht

"Ich habe noch nie von einem Menschen gehört, der die Macht attackiert hat, ohne sie für sich zu wollen." Wem die Macht zuwider ist, der schlüpft nur zu gerne in die Rolle des Ohnmächtigen. Wenn man Canetti, den Literaturnobelpreisträger von 1981, während seiner letzten Lebensjahre in Zürich anrief, konnte es passieren, dass er sich mit zuckersüßer Stimme als seine eigene Haushälterin ausgab. Das Bekenntnis zur Macht der Verwandlung weckte im Jahrhundertdenker früh das Verständnis für andere Ohnmachthaber wie den Kapitulationsexperten Franz Kafka.

In Wahrheit bildet Canettis Theorie bis heute einen Stein des Anstoßes. Die Konfigurationsbedingungen von Massenaufläufen haben sich gewandelt. Sie sind ins Internet abgewandert, wo man Canettis Bestimmungen der "Meute" wiederfinden kann: Wichtig scheint der Erregungszustand, der kleine Menschengruppen zu Horden zusammenschließt.

Jagdmeuten bilden Hetzmassen, die mit jedem Shitstorm eine neue Sau durchs digitale Dorf jagen. Umgekehrt ist auch der Begriff der "Vermehrungsmeute" anschlussfähig: Alle Demos, auch solche gegen den Klimawandel, handeln von der Vermehrung der zeitgerecht Alarmierten. Wer die Verhältnisse zum Besseren umstoßen möchte, wird dies ohne die Inanspruchnahme von realer Macht nicht bewerkstelligen können. (Ronald Pohl, 14.8.2019)