Die Idee der Anastasia-Siedlungen stammt aus Russland. In den Kommunen werden rückwärtsgewandte Geschlechterrollen propagiert.

Foto: Yuri Kozyrev / laif

Ein Hektar Land für jede Familie. Dort steht ein Haus, umgeben von Bäumen und einer vielfältigen Pflanzenwelt. Daneben liegt ein kleiner Teich. Rund um das Grundstück verläuft ein "lebendiger Zaun", der Früchte trägt. Leben kann man von dem, was man selbst anbaut und erntet. So soll ein Paradies erschaffen werden.

In dieser oder einer leicht abgewandelten Form sollen die sogenannten "Familienlandsitze" der Anastasia-Bewegung realisiert werden. Entstehen mehrere solche Landsitze nebeneinander, werden Siedlungen geformt. Hinter der Idee des perfekten Dorfes steht eine esoterische Weltanschauung, die die Rückkehr der Menschheit zu einer natürlichen Lebensweise zum Ideal erklärt. Ihre Anhänger verstehen sich als Zivilisationskritiker – und streifen mitunter am rechten Rand an.

Mythos Anastasia

Im deutschsprachigen Raum entstehen mehr und mehr derartige Landsitze und Siedlungen, derzeit dürften es in Deutschland über ein Dutzend Siedlungen und einige hundert Anhänger sein. Auch in Österreich gibt es vereinzelt Projekte – und immer mehr Sympathisanten.

Ausgelöst wurde die Bewegung durch eine Buchreihe des russischen Autors Wladimir Megre. Dieser beschreibt die Gestalt Anastasia als junge Frau, die nicht nur das Wissen über die ganze Welt in sich trage, sondern auch übernatürliche Kräfte besitze. Suggeriert wird: Wer selbst zu einem natürlichen Leben zurückfände, würde ebenfalls derartige Fähigkeiten entdecken.

Willkommene Erklärungen

Es ist ein absolutes Weltbild, das vermittelt wird. Es sind willkommene Erklärungen für eine Welt, die immer komplizierter wird. Experten erkennen in den Anastasia-Büchern Elemente völkischen Denkens sowie antisemitische Erklärungsmuster: So ist zu lesen, es gebe eine Kaste von Priestern, die sich gegen die Menschen verschworen hätten und diese ausbeuten würden. Und diese Priester seien mit den Juden verbunden.

"Weiter argumentiert wird dann so: Wenn man sich die Geschichte des jüdischen Volkes ansieht, müsse man sich schon die Frage stellen, was die Juden an sich hätten, dass immer ausgerechnet gegen sie Verbrechen verübt werden", sagt Marius Hellwig von der Amadeu-Antonio-Stiftung, der zu Rechtsextremismus im ländlichen Raum forscht. Eindimensionale Kapitalismuskritik treffe auf ein Denken in Gut-und-böse-Kategorien.

Die Idee trifft auch auf ein wachsendes Bedürfnis nach Entschleunigung und nach alternativen Lebensweisen. Gerade weil die Vorstellungen so konkret und eine dezidierte Anleitung vorhanden ist, finden sich auch in der Öko- und Naturschutzbewegung mitunter interessierte Zuhörer. Denn auch wenn zum Teil kritische Auseinandersetzung stattfinde, sei die Szene generell offen für esoterische Gedanken, sagt Experte Hellwig.

Sympathisanten auch in Österreich

Hierzulande dürfte es eine Handvoll Familienlandsitze geben – und ein paar Gruppen, die eine Umsetzung planen. Ein Projekt, das zum Teil auf Anastasia Bezug nimmt, existiert beispielsweise in Tirol. Über einen Verein sollen Familien vernetzt werden, die sich für eine derartige Lebensweise interessieren, sagt Gründer Bruno W. zum STANDARD. Nicht alle müssten allerdings dezidiert nach dem Konzept eines Familienlandsitzes leben. 20 Mitglieder habe man bisher – und einen "Partnerplatz" am Wörthersee.

Die Utopie: Naturschutzgebiete, in denen Menschen in Gemeinschaften leben können. Schon vor der Lektüre der Anastasia-Bücher habe man diese Lebensform angestrebt, dort dann aber "interessante Ansätze" gefunden.

Ein nachhaltiger Lebensstil soll etwa durch Streben nach Selbstversorgung, aber auch der richtigen Ernährung erreicht werden. Denn über die korrekte Ernährung könne man – auch entgegen wissenschaftlichen Behauptungen – Krankheiten überhaupt verhindern. Der beste Beweis, sagt Bruno W., seien seine Kinder: Sie würden keine medizinische Versorgung brauchen.

Beobachtung durch Verfassungsschutz

Auch in Oberösterreich gibt es ein Hofprojekt. Es läuft unter dem Namen "Anastasialand." Dort sollen die Grundsätze der "russischen Eremitin in der Taiga, die für die ganze Welt die Lösungen fürs Leben erkannt und auch weitergegeben hat", sichtbar gemacht werden, ist auf der Website zu lesen. Mit dem STANDARD wollte der Betreiber nicht über das Projekt sprechen.

Das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) beobachtet die Bewegung, wie dem STANDARD bestätigt wurde. Auch einzelne Mitglieder seien der Behörde bekannt.

Anknüpfungspunkte zur rechten Szene

Überschneidungen gibt es zu verschiedenen Szenen, auch dem Staatsverweigerer-Milieu. Recherchen der "Wiener Zeitung" belegen etwa Verbindungen zur "Lais"Bewegung, deren Aktivisten ihre Kinder von der Schule abmelden, um sie selbst oder in entsprechenden Lerngruppen zu unterrichten. Auch die Bundesstelle für Sektenfragen hat "Anastasia" am Schirm.

Laut Experte Hellwig ließen sich auch durchaus Parallelen zu rechten Siedlungsbewegungen ziehen, etwa durch die starke Bezugnahme auf die Familie als Keimzelle. Verdeckte Recherchen der ARD über derartige Siedlungen zeigen, wie dort gegen Flüchtlinge gehetzt und reaktionäre Theorien verbreitet werden.

Auf dem Grundstück einer Siedlung fand ein Sommerlager des Jugendbunds "Sturmvogel" statt, dessen Ursprünge in der verbotenen, rechtsextremen "Wiking-Jugend" liegen. Ein Anhänger hält unter dem Pseudonym "Urahnenerbe Germania" Vorträge, auf einem anderen Landsitz soll einem lesbischen Pärchen nicht erlaubt worden sein, mitzumachen.

Bedürfnis zum Aussteigen

Mit einem solchen Familienbild könne er nichts anfangen, sagt Siedler W. In der Bewegung gebe es außerdem nicht mehr Rechtsradikale als überall anders auch. Er fände es nicht gut, wenn Leute ausgegrenzt würden. Auch von Antisemitismus wolle er sich distanzieren. Er müsse, so wie bei der Bibel, auch nicht jede Passage der Bücher unterschreiben können. Vor allem gehe es ihm darum, etwas zu tun: zum Beispiel gegen den Klimawandel.

Die Szene sei divers und nicht "eindeutig als Gesamtes rechtsextrem positioniert", sagt Experte Hellwig. "Aber wir müssen uns schon fragen: Wieso gibt es dieses starke Bedürfnis, auszusteigen und sich solchen Lehren zu unterwerfen? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?" (Vanessa Gaigg, 12.9.2019)